Der Schutzengel

Amanda Haagen, Gerolstein

Ein gut erzogener Mensch sollte immer darauf bedacht sein, Haltung zu bewahren, mag eine Situation noch so unangenehm sein. Es kann aber durchaus nicht schaden, diesbezüglich einmal einen Schutzengel zu haben. Seit meine Schwester Charlotte nach dem Zweiten Weltkrieg infolge ihrer Verheiratung nach Amerika auswanderte, durfte ich sie all die Jahre immer wieder einmal besuchen. Im Lauf der Zeit überlebten wir unsere Ehemänner, gerieten ins Rentenalter und waren stets bestrebt, unsere Hände noch lange nicht in den Schoß zu legen, sondern unser Seniorendasein gebührend zu strapazieren. Abgesehen davon, interessante Sehenswürdigkeiten kennen zu lernen, scheuten wir keine Anstrengung, uns in der frischen Luft zu bewegen.

Charlottes Haus lag direkt an einem vierspurigen Highway, alles andere als umweltfreundlich. Noch schlimmer: vor ihrem Gartenzaun befand sich eine Omnibus-Haltestelle. Nichtsachtend warfen Fahrgäste ihre Zigarettenstummel häufig über den Zaun, wodurch einmal ein ganzes Beet ihrer mit großer Liebe gezüchteten Strohblumen abbrannte. Vor dem Hausportal befand sich ein Schutzdach, getragen von vier Säulen, fundiert auf einer kleinen Mauer in Sitzhöhe. An einem sonnigen Frühlingsnachmittag beschlossen wir, an ein Flussufer hinauszufahren, um dort einen längeren Spaziergang zu unternehmen. Ich schickte mich an, vorauszugehen, um das Gartentor für die Autoausfahrt zu öffnen. Charlotte prüfte wie immer vor dem Weggehen alle Lichter, Wasserhähne und gab die Codezahlen der Alarmanlage ein. Kaum über die Türschwelle getreten, erblickte ich einen alten Mann auf der Säulenmauer sitzend, den Schlapphut tief ins Gesicht gedrückt. Entsetzt drehte ich mich um und rief meiner Schwester zu: „Lotte, da hockt ein Penner!" (In deutscher Sprache, versteht sich).

Als Charlotte näher kam, stand der Mann sofort auf, zog seinen Hut, verbeugte sich und bat um Entschuldigung. Er wäre den ganzen Tag im Einkaufscenter auf den Beinen gewesen, um all die Gegenstände auszusuchen, die ihm geliefert würden und da ihm der Omnibus gerade vor der Nase weggefahren war, wollte er zu Fuß an dieser Haltestelle den nächsten Bus erreichen. Lotte zeigte sich sehr verständnisvoll. Die Frage, wohin er fahren müsse, war schnell geklärt. Sein Ziel lag auf unserem Weg. So luden wir ihn ein, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. Wir würden ihn gerne nach Hause bringen.

Die Unterhaltung während der Fahrt verlief zweisprachig. Meine Schwester konnte es sich nicht abgewöhnen, mit mir deutsch zu sprechen. Doch der „Penner" auf dem Rücksitz brachte die Unterhaltung ganz einfach in ein anderes Licht. In akzentfreiem Deutsch sagte er auf einmal: „Meine Damen, sicher sollte man die Sprache des Landes benützen, in dem man sich aufhält, aber Sie dürfen getrost auch deutsch mit mir reden. Ich bin gebürtiger Franzose, meine Mutter stammte aus Deutschland, wo ich studiert habe -ja - ich bin ein Berliner ." Es klang sehr bedeutungsvoll! „Seit 1955 lebe ich hier in den Staaten und habe mir als Professor der Chemie mein Brot verdient. Meine Frau ließ sich 1945 scheiden. Sie war Engländerin und übersiedelte in ihre Heimat. Mein Rentendasein verbringe ich nun mit Schriftstellerei. Ich habe zwei Bücher geschrieben." Nun fielen wir buchstäblich aus allen Wolken! Inzwischen waren wir an seinem Haus angekommen. Nun staunten wir noch mehr. Das Haus war eine stattliche Villa. Er wollte uns auf ein Glas Wein noch hereinbitten, was wir, um nicht unhöflich zu sein, auf ein andermal versprachen. Er bedankte sich - ganz Kavalier alter Schule - und verabschiedete sich mit Handkuss. Im Weiterfahren - außer

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Wissenschaft

Soziologe Riesman ist tot

BINGHAMPTON. (dpa) Der amerikanische Soziologe David Riesman, Autor des gesellschaftskritischen Bestsellers „Die einsame Masse", ist tot. US-Medien berichteten am Montag, Riesman sei am Freitag im Alter von 92 Jahren in Binghampton (US-Staat New York) gestorben. Riesman war seit 1949 Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Chicago, von 1958 bis 1981 lehrte er an der Harvard Universität. Er hatte seine „Studie vom veränderten amerikanischen Charakter", so der Untertitel des Buches, 1950 mit Reuel Fenney und Nathan Glazer herausgegeben. Millionen von Amerikanern bedienten sich damals des Lehrbuchs, um Nachbarn, Kollegen und Freunde zu analysieren und Riesmans drei Kategorien zuzuordnen. Riesman selbst schrieb, dass eine vom Konsum beherrschte Gesellschaft mit stagnierender oder abnehmender Bevölkerungszahl ihre Dynamik einbüße und sich mehr an anderen als an den eigenen Idealen messe. „Die einsame Masse" löste landesweite Diskussionen und nagende Selbstkritik unter Amerikanern aus. Das Buch war außerdem der Anstoß für eine Reihe weiterer Nachkriegsklassiker, die die alarmierende Verfassung der US-Gesellschaft untersuchten. Riesman veröffentlichte bis in die 80er Jahre ein gutes Dutzend weiterer Studien, unter anderem auch zum Erziehungswesen in den USA. Aber keines von ihnen fand ein vergleichbares Echo wie seine erste Gesellschaftsanalyse.

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Sichtweite - brachen Charlotte und ich erst einmal in schallendes Gelächter aus, die Fenster herunterkurbelnd, erlöst von einem unerträglichen Schweißgeruch. Wie aus einem Mund dankten wir unserem Herrgott, das, was uns dauernd auf der Zunge gelegen hatte, nicht laut in deutscher Sprache ausgesprochen zu haben.

Natürlich, einen Schutzengel muss man haben. Der alte pensionierte Professor zählte von da an zu Charlottes Bekanntenkreis. Inzwischen sind 13 Jahre ins Land gegangen. Ausgerechnet heute, im Jahr 2002, fällt mir diese Begegnung ein, um dieses Erlebnis zu Papier zu bringen. Noch bevor ich das Geschriebene für das Heimatjahrbuch einreichen wollte, fällt beim morgendlichen Zeitungslesen mein Blick auf einen US-Medienbericht. Soziologe Riesman ist tot. Alles, was mir Charlotte über diesen Mann später noch berichtete, stimmt mit dem Zeitungsbericht genau überein. Leider vergaß ich seinen Namen, aber ich bin ganz sicher - es war unser „Penner" auf der Mauer mit unserem Schutzengel!