Dritte Heimat

Agnes Giesbrecht, Bonn

Der Wind spielte mit Adas Haaren. Es war frisch aber angenehm am Rhein. Das Schiff »Bonner Wappen« legte Richtung Mainz ab. An Bord spielte Musik. Die Stimmung der Passagiere schien genau so sonnig wie dieser Altweibersommernachmittag. Ada legte ihre schmale Hand auf die Schulter ihres Sohnes: »Schau mal, Jürgen, da drüben, das ist das Siebengebirge. Wir werden heute viel Interessantes sehen.« Jürgens blaue Augen leuchteten aufgeregt. Es war ihre erste Schifffahrt in Deutschland. Er war dreizehn, missmutig, aber begeisterungsfähig. Ada, eine ehemalige Reiseleiterin aus dem Kaukasus, war als Kind einer russlanddeutschen Familie im Südural geboren, wohin es ihre Eltern aus der Ukraine verschlagen hatte. Ihre Großmutter stammte aus einer wohlhabenden Familie Albrecht, die während der Revolution in Russland alles verloren hatte. Ihr Vater fiel dem Revolutionsmoloch zum Opfer. Dieses Schicksal war später auch ihrem Mann Jacob bestimmt. Nach seiner Kriegsgefangenschaft in Österreich während des Ersten Weltkrieges war Jacob, der Sohn eines Einwanderers aus Deutschland, glücklich, wieder in die Ukraine zu kommen, wo er geboren wurde. In Waldheim, einem von deutschen Kolonisten gegründeten Dorf, roch es in seinen Erinnerungen nach frischgebackenem Brot, Äpfeln, Freiheit und Frühling. Die Hunde des Barons, die er während seiner Gefangenschaft betreuen musste, hatten ein besseres Leben gehabt als er. Der ehemalige Sanitäter musste sie füttern, baden und auf weißen Laken betten. Er schlief in der Scheune, ohne weiße Laken und sein Essen war auch nicht so abwechslungsreich. Jacob träumte oft von seinem Dorf, dem geräumigen Ziegelsteinhaus seiner Eltern und von den strahlenden dunklen Augen und Locken von Agnes Albrecht, die er sich vorgenommen hatte zu heiraten, wenn der Krieg zu Ende sein würde. Endlich war er dann wieder zum riesigen Dnjepr-Fluss zurückgekehrt, aber in den Wirren der Revolution war die Ukraine, die er kannte, und das friedliche Miteinander der deutschen Kolonisten mit den ukrainischen Nachbarn zu Ende gegangen, genau so wie die Selbstverwaltung in den deutschen Dörfern. Nur Agnes war noch schöner geworden, aber auch trauriger nach dem Tod ihres Vaters, den ein Dorfprolet umgebracht hatte, sein zu einer Bande gehörende Mündel, dessen zu strenger Vormund er gewesen war. Als Jacob dem Mädchen einen Heiratsantrag machte, willigte sie ein, fragte aber vorsichtig, was er von einer Auswanderung nach Kanada halten würde. Zwei ihrer Schwestern waren schon vom Reisefieber angesteckt, wollten »zurück ins Reich«, wie es unter den Kolonisten mit deutschem Pass hieß, oder über den großen Teich, wo es die Religionsfreiheit gab und die deutschen Mennoniten nicht zum Wehrdienst gezwungen wurden. Denen von ihnen, die sich in der Ukraine von den Banditen nicht einfach abschlachten lassen wollten und in ihren Dörfern eine Selbstverteidigung organisiert hatten, wurde das in Amerika von ihren früher ausgewanderten Glaubensbrüdern nicht verziehen. »Da ist auch nicht alles Gold, was glänzt«, antwortete Jacob genau so vorsichtig und erzählte von seiner Gefangenschaft. Er glaubte nicht, dass es die gewohnte Ordnung, die Welt, die er während des Krieges verlassen hatte, nicht mehr gab.

Zurück nach Deutschland, zum Vater Rhein, von dem seine Mutter, eine Rheinländerin, oft gesungen hatte? Das Leben dort war lange nicht so romantisch wie in den Liedern der schönen Loreley. Was erwartete ihn dort? Er wollte nicht Knecht bei einem wohlhabenden Bauern werden...

»Agnes, es kann, es muss sich einfach wieder alles ändern. Ich kann unseren großen Hof nicht einfach so aufgeben.« Er irrte gewaltig. Der Hof wurde während der Kollektivierung enteignet, als die armen Bauern gezwungen wurden, in die Kolchosen einzutreten und die Großbauern zu Klassenfeinden erklärt und nach Sibirien vertrieben wurden. Die Porzellanfabrik von Agnes' Vater wurde schon während der Revolution enteignet und dann stillgelegt. Als Jacob mit seiner jungen Frau und dem kleinen Andreas das große Elternhaus verlassen musste, schwebte über der Ukraine erst noch unsichtbar, angedeutet durch Bettlerscharen, dann immer mehr Opfer fordernder Hunger. In der ehemaligen Kornkammer Russlands, die Getreide über Odessa nach Übersee exportiert hatte, starben nach der Zwangskollektivierung, Missernte und Misswirtschaft ganze Dörfer aus. Die junge Familie schlug sich in den Südural zu Jacobs Onkel durch. Sie durften in seiner Sommerküche wohnen, wo ihr zweiter Sohn das Licht der Welt erblickte. Jacob begann bald danach ein Haus zu bauen, wurde aber denunziert und verhaftet, als er gerade den Giebel seines Hauses fertig stellen wollte. Agnes weinte oft, hatte Heimweh nach der in der ganzen Welt zerstreuten Familie, nach dem Leben in der Ukraine. Jacob hatte Angst, sie würde blind vom Weinen und redete beruhigend auf sie ein. Als er von der Miliz abgeholt und als deutscher Spion gebrandmarkt wurde, nur weil er vor Jahren in österreichischer Gefangenschaft gewesen war, hörte seine junge Frau auf zu weinen. Das Schlimmste war passiert: Sie musste jetzt stark bleiben um der Kinder Willen, besonders der kleine Ernst, noch ein Säugling, war auf sie angewiesen. Wenn er quängelte, sang sie oft die Lieder vom Rhein: »Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein..« oder die Loreley -»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin...« und dachte traurig und verbissen, dass alles anders gewesen wäre, wenn sie es damals geschafft hätte, Jacob zu überreden, aus diesem gottverdammten Land auszuwandern. Manchmal, wenn sie nachts nicht schlafen konnte, kam ihr die vom Vater oft gesungene »Wacht am Rhein« in den Sinn: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall...« Für sie war es der Ruf der Ahnen und ihrer deutschen Verwandten, die sie in der Kindheit einige Male mit den Eltern besuchen durfte. Ein vergeblicher Ruf hinter dem eisernen Vorhang... Dieser Begriff wurde zwar erst während des kalten Krieges formuliert, aber das erste Arbeiter- und Bauernland hatte sich schon damals vom Rest der Welt abgeschirmt. Sogar der Briefwechsel mit ihren Schwestern aus Kanada wurde Agnes untersagt und konnte erst in den 60er Jahren wieder aufgenommen werden... Ada erinnerte sich gut an die bunten Wachsstifte und eine kleine wunderschöne Gummipuppe aus Kanada, mit der sie nur unter Großmutters Aufsicht spielen durfte, an die herrlich duftende Seife und blendend schönen Modelle in den Modekatalogen, die ihre Großtanten schickten. Ada und ihre Schwester durften ab und zu die wunderschönen Kleider aus dem Katalog nachmalen, schnitten sie dann aus und kleideten damit ihre Papierpuppen... »Mutter, hörst Du mir überhaupt zu?« Jürgens Stimme holte Ada aus ihren weit ausgeschweiften Gedanken. »Schau, da oben, auf dem Fels. Ist das eine Burg?« »Das muss der Drachenfels sein. Erinnerst Du dich an das Nibelungenlied, an die Sagen vom Kampf zwischen Siegfried und dem Drachen? Von daher stammt auch der Name Drachenfels.«

»Ich glaube, Siegfried konnte ihn nicht besiegen, aber eines Tages hauchte der Drachen ein mit Pulver oder Sprengstoff beladenes Schiff mit Feuer aus seinem Rachen an, es explodierte und tötete ihn«, erwiderte Jürgen, zufrieden, dass er auch etwas dazu beitragen konnte. Diese Version gefiel ihm am besten. »Aber im Kaukasus sind die Berge viel höher, nicht wahr?« Ada lächelte. Als sie damals nach ihrer gescheiterten Ehe in den Kaukasus umgezogen war, hatte sie ihren Sohn oft bei ihren Reiseleitungen mitgenommen. Er kannte alle Sagen auswendig, die sie unterwegs zum Elbrus, dem höchsten Berg Europas, den Touristen erzählt hatte. Als sie nach Deutschland kamen, kaufte sie als erstes ein Buch mit Sagen über die Burgen am Rhein und erzählte sie ihm.

Der Kaukasus mit seiner überwältigenden Schönheit hatte ihr geholfen, die seelischen Wunden zu heilen. Er war lange Zeit ihre Wahlheimat gewesen, jedoch in der Perestrojka-Zeit wurden dort die Nationalistenstimmen immer stärker, die laut auf dem Markt schrien: »Die Deutschen gehen nach Deutschland und die Russen werden wir auch von hier vertreiben.« Die politische Instabilität und Unruhe, die zwischen zwei ruhmlosen Kriegen - in Afghanistan und später in Tschetschenien - in der Region von hundert Bergen und hundert Völkern herrschte, war beängstigend. Immer mehr Deutsche bekamen Ausreisegenehmigungen und wanderten aus nach Deutschland. Ein paar Koffer und zweihundertsiebzig DM war alles, was man mitnehmen durfte. Adas Vater hatte sich immer als Fremder in seiner Heimat gefühlt. Er musste mit 15 Jahren in der Kriegszeit nach Sibirien in ein Zwangsarbeitslager, nur weil er ein Deutscher war. Dort überlebte nur jeder Dritte. Der Hass gegen die »eigenen« im Land geborenen zwei Millionen Deutschen, die man irrtümlicher Weise mit den Kriegsgefangenen verwechselte, hielt in Russland bis in die Sechzigerjahre an. Bei den Völkerzählungen wurden die Deutschen immer in der Rubrik »und andere...« aufgeführt. Adas Vater hatte immer den Wunsch gehabt, als Deutscher unter Deutschen zu leben. Mit 62 Jahren korrigierte er den Fehler seines Vaters, wanderte nach vielen politischen Schikanen mit der Hälfte seiner Familie aus. Zehn Jahre hatte er für die Ausreiseerlaubnis gekämpft und glaubte es kaum, als an einem sonnigen Herbsttag die offizielle Einreiseerlaubnis der Bundesregierung ihm ausgehändigt wurde. Er fühlt sich in Deutschland zu Hause und dem Land unendlich dankbar dafür.

Ada sah die grünen Berge am Rhein entlang und dachte: »Im Kaukasus habe ich versucht ein Haus zu bauen, hatte dort eine zweite Heimat gefunden, Freunde gewonnen, aber ich war nicht imstande, das Haus allein fertig zu stellen. Die Inflation fraß das letzte Geld auf. Das Vertrauen in die Perestroika schrumpfte. Es ist mir nicht gelungen, dort Wurzeln zu schlagen. Meine Verwandten, meine Freunde sind einer nach dem anderen nach Deutschland gegangen. Es wurde immer leerer um mich. Dazu kam noch die politische Enttäuschung. Und - ich konnte nicht mehr mit meinem Vater diskutieren. Er hatte seine Wahl getroffen. Er war einfach nicht mehr da und das war sein stärkstes Argument.«

Das Schiff machte eine große Schleife, um zu wenden und wieder nach Bonn zurückzukehren. Die Musik war lauter, die Stimmung der Fahrgäste ausgelassener geworden. Viele tanzten, Jürgen erkundete das Schiff, und Ada fühlte sich noch einsamer als zuvor. Sie grübelte weiter: »Jetzt bin ich auch hier. In der Heimat meiner Ahnen. Sie soll meine dritte Heimat werden. Sie ist schön, aber wieso fühle ich mich hier so fremd? War das Reiseziel diesmal zu weit? Es gibt aber jetzt für mich kein Zurück mehr. Ich muss dieses Land und diese Leute versuchen zu verstehen. Nur so kann ich mich annähern.« Ihre Gedanken unterbrach der wieder aufgetauchte Sohn. »Mutter, schau, wieder eine Burg. Wo hast du das Buch? Sieh bitte nach, wie sie heißt und welche Sage wir darüber gelesen haben!« Jürgen zupfte an ihrem Ärmel. Ada holte das Büchlein aus der Tasche und sah stumm staunend zu der Burg am Rheinufer hoch. Obwohl sie niemals diese Burg gesehen hatte, erinnerte sie sich plötzlich, dass sie genau so eine Burg als Kind gemalt hatte und sehr stolz auf ihre Fantasie gewesen war. Das Bild hatte sie lange aufbewahrt. »Unglaublich«, sagte sie überwältigt. »Ich habe das Gefühl, diese Burg zu kennen, aber das ist unmöglich, es sei denn, es ist das genetische Gedächtnis unserer Vorfahren.« »Was ist ein genetisches Gedächtnis, Mutter?« fragte Jürgen ungeduldig. »Vielleicht das gespeicherte Heimweh meiner Urgroßmutter, die oft ihren Kindern vom Rhein erzählt und gesungen hatte. Siehst du, dieser Ring ist die einzige Erinnerung an sie. Er wurde mir von der kanadischen Schwester meiner Großmutter vererbt. Jetzt können wir den Rhein von ihnen grüßen und sagen, dass wir an ihrer Stelle zurückgekehrt sind.« »Der Ural war aber ein sauberer Fluss und die Wolga viel breiter«, musterte Jürgen den Fluss kritisch.

»Der Rhein ist genau so breit, wie der Fluss, an dem ich geboren bin und das Schwimmen gelernt habe. Und diese Berge sind fast so hoch wie das Vorgebirge im Kaukasus, wo wir Pilze gesammelt haben. Ich habe das Gefühl, als ob ich diese Berge wiedererkenne. Hier ist es schön. Schade, dass ich keine Malerin bin...«

»Sieh mal, da drüben, ein Maler. Er malt etwas Abstraktes«, machte sie Jürgen auf einen langhaarigen Mann mit einer hellen Leinenhose aufmerksam. »Ich gehe rüber und schau ihm zu.« »Gut«, antwortete Ada und führte ihren inneren Monolog weiter: »Mein grünes Deutschland. Ich grüße dich und möchte hier heimisch werden...«