Nur eine Schnitte Brot

Christel Weber, Birresborn

Ein Junge spielte auf der Straße Fußball mit einem Brötchen. Ich war schockiert. Dieser Vorfall beschäftigte mich den ganzen Tag. Erinnerungen wurden in mir wach, die schon zig Jahre zurücklagen. Jetzt wurden sie wieder lebendig, als wäre es gestern gewesen.

Es war an einem Abend im Januar 1945, als es spät abends noch an unsere Küchentür klopfte. Die Haustüre stand immer offen, bis der Letzte schlafen ging. Vater und ich waren allein zu Hause. Mutter war mit meinen jüngeren Geschwistern in einer Baracke im Wald, die Vater mit seinen Schwägern für die Frauen mit den Kindern gebaut hatten. Die Aufmarschstraße zur Westfront führte nämlich durch unser Dorf und ständig wurde es von den Jabos der Alliierten überflogen.

Da standen nun zwei Männer in der Tür. Der eine hatte einen langen alten Mantel an und die Füße oder Schuhe mit Lumpen umwickelt. Er trug einen langen, grauen Bart. Auf dem Kopf hatte er einen Fez, der wohl mal weiß gewesen war. Der andere hatte wattierte, gesteppte Sachen an, wie man sie im Osten trug. Dieser Mann fragte in gebrochenem Deutsch, ob sie m der Scheune schlafen durften. „In der Scheune ist es zu kalt, die Dachziegel sind fast alle weg. Im Stall ist es warmer, da liegt noch Stroh hinterm Vieh", sagte Vater. Dann nahm er das große Brot, das noch auf dem Tisch lag und schnitt jedem eine dicke Scheibe ab. Sie nahmen sie mit beiden Händen entgegen wie eine Kostbarkeit, fielen auf die Knie nieder, umfassten die Füße meines Vaters und küssten sie. Ich war erschrocken und weinte, begriff nicht, was das sollte. Vater nickte mir beruhigend zu, auch er war gerührt, fasste die Männer an den Schultern zum Aufstehen. Der Mann mit dem langen Bart machte mit den Händen Bewegungen und murmelte etwas, als ob er uns segnen wollte, ehe er mit in den Stall ging. „Woher die wohl kommen?" fragte ich nachher Vater. „Ich will es nicht wissen. Morgen sind sie bestimmt wieder weg. Auf jeden Fall waren sie sehr hungrig", meinte er. Morgens war noch der deutschsprechende Mann da. Der andere, ein Jude, war noch in der Nacht weitergegangen. Er bat meinen Vater, ihn zu behalten und erzählte ihm, dass er ein Bauer aus Litauen sei. Mit seinem Gespann musste er Heeresgut der deutschen Wehrmacht zum nächsten Dorf fahren, aber man befahl ihn immer weiter. Dann nahm man ihm die Pferde ab, steckte ihn zu anderen Männern aus dem Osten (Russen, Polen, Juden] in einen Viehwaggon und transportierte sie an den Westwall zum Schanzen. Nun war der Boden aber hart gefroren. Deshalb schickte man sie zu Fuß zum Hinterland, wo sie sich sammeln sollten. An Verpflegung dachte niemand. So waren diese beiden Männer, die Straße meidend, aus Angst vor SS oder MP bis in unser Dorf gekommen. Mein Vater behielt ihn. Er durfte bei uns bleiben, da er ja kein Angehöriger eines feindlichen Landes war. Als die Front dann näher kam, müssten alle Ausländer den Gefahrenbereich verlassen. Wo man sie hinbrachte, weiß ich nicht. Er ist in den Wirren des Kriegsendes wohl nicht nach Hause gekommen, sonst hätte er sich sicher bei meinen Eltern gemeldet. Nach einem solchen Erlebnis bleibt Brot immer Gottes Gabe für mich.