Die »Ditzjentant«

Vom Leben einer Hebamme im letzten Jahrhundert

Alois Bramer, Kirchweiler

Meine Mutter, Frau Anna Maria Bramer, geborene Lenartz, wurde am 04.01.1878 in Hinterweiler geboren. Ihre Kindheit wurde geprägt durch sehr viel Arbeit, Not, durch Kirche und Schule. Mit 24 Jahren heiratete sie 1902 den gleichaltrigen Holzhauer und Kleinlandwirt Peter Hab aus Kirchweiler. Doch dieser verstarb zwei Jahre später. Meine Mutter, die nun mit einem Kleinkind allein stand, wollte sich aber nicht mit diesem Schicksal abfinden. So besuchte sie in Wuppertal einen Ausbildungslehrgang als Hebamme, welchen sie mit Auszeichnung abschloss. 1910 heiratete sie zum zweiten Mal, den Eisenbahner Martin Bramer aus Dockweiler. Aus dieser Ehe gingen noch sechs Kinder hervor. Der Zuständigkeitsbereich meiner Mutter umfasste die Dörfer Kirchweiler, Hinterweiler, Berlingen, Hohenfels, Essingen, Betteldorf, Dockweiler, Dreis, Brück, Waldkönigen und Steinborn. Heute könnte man sagen, alles Orte, die ja sehr nahe beieinander liegen und mit dem Auto schnell zu erreichen sind. Nur damals besaß meine Mutter kein Auto, lediglich ein Damenfahrrad ohne Gangschaltung. Und das konnte sie wirklich gut fahren. Wenn hoher Schnee lag oder bei Regen und Sturm, zog sie Vaters Ledergamaschen an. Nicht selten kam es vor, dass sie tage- und nächtelang von zu Hause fort war, so dass unser Vater für uns Kinder kochen musste. Bald wurde sie bei den Leuten »die Ditzjentant« genannt. »Ditzjen« (= Ditzchen) bedeutet im Eifeler Dialekt Säugling. Wenn Kinder sie fragten, woher denn wohl die »Ditzjen« kämen, antwortete sie, sie würde sie auf der Kasselburg abholen. Und wenn die Kinder dann weiter fragten: »Wann brenkt dier oos dahn enn Ditzje«?, antwortete sie häufig: »Om Moment hann ech err nur mot ruuden Hoo-re«. (= Im Moment habe ich nur welche mit roten Haaren), worauf dann meist als Reaktion kam: »Daa wolle mer kend« (= Dann wollen wir kein Kind).

Geburten fanden damals fast nie in Krankenhäusern statt, sondern zu Hause in der Familie. Waren die Schlafzimmer zu eng oder schliefen in diesem Zimmer auch noch andere Kinder, wurde die Gebärende nicht selten auf den Küchentisch gelegt. Neun Tage stand der Wöchnerin die Hebamme als Wochenbettpflege zur Seite. Es kam mehr als einmal vor, dass zur gleichen Zeit in Brück, Berlingen und Waldkönigen

Wöchnerinnen lagen, die gepflegt werden mussten. Das bedeutete Großeinsatz für Mutter. Und wir Kinder fragten uns oft, ob unsere Mutter gar nicht mehr für uns da sei. So ging Jahr für Jahr die Arbeit von Mutter weiter bis zu ihrem 65. Lebensjahr. Sie sollte pensioniert werden, doch dann kam eine Nachricht vom Dauner Amtsarzt Dr. Reuland: »Sehr geehrte Frau Bramer, es ist voraussichtlich in nächster Zeit nicht mit einem Ersatz für Sie als Hebamme zu rechnen, deshalb erteile ich Ihnen hiermit die Genehmigung Ihren Beruf als Hebamme weiter auszuüben.«

Diese Nachricht war für meine Mutter wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten an einem Tag. So freute sie sich, dass sie ihre Arbeit als »Ditzjentant« weiter ausüben durfte. Und das tat sie noch bis zu ihrem 75. Lebensjahr. Sie war selten krank, und wenn doch, dann ging sie auf unseren Speicher, holte dort ein paar Kräuter, die sie auf ihren Fußmärschen gesammelt hat und kochte sich davon einen Tee. Schnell war »datt kleen Iwwel«, wie sie es nannte, dann vorbei. Sogar wenn bei den Bauern im Stall ein Stück Vieh krank war, fragte man sie um Rat. Auch dann nahm sie vom Speicher etwas von ihrer Kräutersammlung und sagte: »Watt joot oss fer de Mensch, oss och joot fer et Veeh!« Neben ihrem Beruf betreute sie noch vier Bienenvölker und ihren Garten, auf den sie besonders stolz war. Wir hatten zu Hause eine kleine Landwirtschaft und machten Hausschlachtungen, wie es zur damaligen Zeit üblich war. Ich kann mich noch gut erinnern, dass Mutter öfters Wurstbrühe, Milch und Fleisch mitnahm für ärmere Wöchnerinnen. Außer den normalen Geburten kam es häufig vor, dass nicht alles glatt verlief und die Geburt komplizierter war. Selten rief sie hierzu einen Arzt, da dieser zur damaligen Zeit mit dem Fahrrad, Pferd oder Kutsche leider meistens zu spät kam.

»Frau Bramer konnte mehr«, erzählt man sich von meiner Mutter. Was damit genau gemeint war, weiß ich nicht, aber nicht selten mussten wir mit ihr zusammen zur heiligen Barbara und der heiligen Dreifaltigkeit für eine kranke Wöchnerin beten. Mutter war eine fromme Frau, und wenn sie selbst nicht mehr weiter wusste, dann suchte sie die Hilfe Gottes im Gebet. Grob gerechnet hat die »Ditzjentant« während ihrer gesamten Dienstzeit zwei bis dreitausend Kindern auf diese Welt geholfen. Hieraus resultierten auch kleine Anekdoten und Geschichten, die sie dann lachend erzählte. Aber niemals hat sie die Schweigepflicht gebrochen, oder wie sie es nannte, »uss der Schull jeschwatt«. Eine Geschichte erzählte sie besonders gern. Bei der Taufe eines »Ditzjens« hauchte der damalige Pfarrer den Säugling an und sprach den Text: »Fahre aus unreiner Geist und gib Raum dem heiligen Geist.«

Der Täufling machte im selben Moment ein Bäuerchen und eine Blähung setzte sich frei. Dieser fast nie lachende Geistliche war erstaunt über die Wirkung seiner Worte und konnte ein maskenhaftes Grinsen nicht verhindern, sagte aber sofort:« Was gibt es da zu lachen?« Sie erzählte auch von einer Geburt im Zigeunerwagen. Sofort nach der Entbindung nahm der Vater das Neugeborene, lief zu dem vorbeifließenden Bach und tauchte das Kind hinein. Mutter erschrak und fragte den Mann, wozu das gut sei. Darauf bekam sie zur Antwort: »Wenn er das nicht aushält, wird er nie ein Zigeuner«. Als sie am nächsten Tag zur Pflege der Wöchnerin kam, stand die Frau am Waschtrog und wusch darin in kaltem Wasser sowohl die Wäsche als auch das Kind. Für diese Art der Behandlung eines Neugeborenen konnte sie die Verantwortung nicht übernehmen und beendete damit die weitere Pflege. Nach dem Krieg waren viele Menschen aufs »Hamstern« angewiesen. Die Ditzjentant hamsterte überwiegend Bettlaken, zerschnitt sie zu Windeln und verschenkte diese dann an Wöchnerinnen. Bei einer Frau musste sie feststellen, dass diese keinen Unterrock besaß. Nach Abschluss der neuntägigen Pflege brachte sie ihr einen Unterrock, den sie mit dem Spruch übergab: »Zieh ihn an und wieder aus, zieh ihn an und denk an mich, die Ann!« Bei einer jüdischen Familie aus Hohenfels hat sie auch bei der Entbindung mehrerer Kinder geholfen. Zum Dank wurde sie zum Fest der Beschneidung eingeladen. Zu den sieben eigenen Kindern kam noch die Verpflichtung als 16-fache Patentante. Dieses resultierte aus der Tatsache, dass es häufiger zu Nottaufen kam und kein anderer Pate zur Stelle war. Mit 75 Jahren endete ihre Hebammenberufstätigkeit. 92 Jahre ist sie alt geworden, als sie im April 1970 verstarb. Und wenn heute an ihrem Namenstag, dem sogenannten »Annendaach«, Blumen auf ihrem Grab liegen, die wir nicht hingebracht haben, dann war dies sicher ein stiller Gruß, ein Zeichen der Dankbarkeit, von einem ihrer Patenkinder oder Menschen, denen sie als »Ditzjentant« hat helfen können.