Die wilde Sau in Kelberg

Erich Mertes, Neuwied

Wildschweine sind immer wieder für Überraschungen gut, das weiß nicht nur jeder Jäger, das weiß auch jeder Bauer.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es regelrechte Wildschwein-Plagen. »Die Besatzungsmacht betrachtete die Jagd als Kriegsbeute und behielt sich in den ersten Jahren das ausschließliche Nutzungsrecht vor...«1 Ich selbst bin 1947 mit 21 Jahren als jüngster Dolmetscher der französischen Militärregierung in Mayen nachts mit französischen Offizieren auf die Saujagd zwischen Mayen und Reudelsterz gegangen.

1950 schreibt der Kelberger Chronist: »Der Schaden durch Wildschweine nimmt derart überhand, dass die Landwirte die Lust verlieren, überhaupt noch Kartoffeln anzupflanzen. Die Gemeinde Hünerbach hat eine außergewöhnliche Bekämpfungsmaßnahme in die Wege geleitet. Die ganze Gemarkung ist mit einem Elektrozaun umgeben, der eine Länge von etwa 6500 Meter hat...«2

Am 11. Oktober 1950 drang ein Wildschwein in den Ortskern Kelberg ein. Am frühen Nachmittag nach 14 Uhr wurde der Apotheker und Jäger Wolfgünter Stuthe von Kelbergern Einwohnern darauf aufmerksam gemacht, dass sich die wilde Sau im Garten vom Arzt Dr. Esten aufhalte. Herr Stuthe bewaffnete sich mit seinem Gewehr und nahm die Verfolgung auf. Während er noch im Garten von Dr. Esten und in den Schulanlagen suchte, lief die Wildsau über den Marktplatz in Richtung Dauner Straße. Zufällig befand sich dort gerade der Viehhändler Dion. Paasch von Mannebach. Dieser scheuchte die Wildsau, und diese lief dann voller Panik in den Keller von Landwirt Matthias Schmitz von Kelberg, dessen Kellereingang sich auf ebener Erde befand. Im Keller von Landwirt

Der zerstörte Ortskern von Kelberg 1945

 

Schmitz wurde das Wildschwein schließlich von dem Apotheker und Jäger Wolfgünter Stuthe waidgerecht erschossen.

Heute würde sich darüber niemand groß aufregen, und die Sache wäre damit erledigt. Damals aber, in der noch jungen Bundesrepublik, als der Stundenlohn eines Facharbeiters noch DM 1,49 betrug', da gab es um das erlegte Wildschwein ein tagelanges Gerangel mit seitenlangen Behördenbriefen. Zunächst wurde der Apotheker Stuthe zur Gendarmerie-Station Kelberg geladen und von Hauptwachtmeister Köllen vernommen. Im Vernehmungsprotokoll des Herrn Stuthe heißt es: »...Die Sau erhielt einen hochwaidewundschuss rechts, etwas spitz von hinten. Ausschuss war nicht vorhanden. Das deformierte Geschoß saß tiefblatt unter dem Schild. Ich (Stuthe) habe die Sau aufgebrochen und dem Amtsbürgermeister zur Verfügung gestellt. Nachdem die Sau nun aufgebrochen im Schlachthaus der Metzgerei Gyr hing, habe ich sie nochmals eingehend untersucht und konnte an ihr nur einen Einschuss (der allerdings etwa die Größe eines Fünfmarkstückes hat) feststellen...«.

Der Jäger Philipp Milz von Kaperich wurde hinzugezogen; er bestätigte nach Beschau die Richtigkeit der Aussagen von Apotheker Stuthe, dass das Wildschwein durch einen einzigen Schuss erledigt wurde. Auch der Maurer Ernst Daniels von Berenbach und Erich Wagner von Kelberg wurden gehört, sie hatten am Aufbau des Hauses von Gastwirt Koch gearbeitet und das Ereignis gesehen. »Ich war als Maurergehilfe an dem Anwesen des Gastwirts Koch beschäftigt, wo ich freie, offene Sicht auf den Marktplatz hatte. Wenn ich nach der Gang- bzw. Bewegungsart des Schweines befragt wurde, so lief das Tier schnell und zügig über den Marktplatz, es wechselte in seiner Hatz in einen gewissen Springlauf über. Das Tier machte mir denselben Eindruck, als ob ich es in freier Wildbahn sah...«, gab Ernst Daniels in seiner Zeugenaussage an. Erich Wagner bestätigte die Richtigkeit der gemachten Angaben. Hauptwachtmeister Köllen von der Gendarmerie-Station Kelberg machte einen Bericht an den Amtsbürgermeister in Kelberg. Darin heißt es: »...Nach einer vorgenommenen Ortsbesichtigung ist zu schließen, dass das Schwein aus der nahegelegenen Gemarkung Aspein bzw. Fichtenwald hergekommen sein muss... Es dürfte allgemein bekannt sein, dass ein gehetztes Wildschwein in einer geschlossenen Ortschaft für die Anlieger wie Passanten eine Gefahr bedeutet. Da nun der auf Streife befindliche Gendarmeriebeamte nicht zur Behebung des polizeiwidrigen Zustandes herbeigerufen werden konnte, wurde derselbe durch den Jäger Stuthe beseitigt. Abschließend bitte ich bemerken zu dürfen, dass das neue Jagdrecht über diesen Zustand nichts besagt. Im alten Jagdrecht zählten Ortschaften nicht zu den bejagenden Gebieten und somit dürfte die jagdliche Beute der Gemeinde Kelberg zugesprochen werden...«. Der Amtsbürgermeister in Kelberg machte einen Bericht an den Landrat in Mayen, darin heißt es; »...Wie bereits fernmündlich berichtet... Ich hatte die Absicht, das Wild zum Teil an Flüchtlinge des Kirchspiels Kelberg zu verteilen und den Rest zu Gunsten der Gemeindekasse Kelberg zu verkaufen. Am 12.10.1950 berichtete mir das Personal schon bei Dienstbeginn um 8,00 Uhr, dass vier Herren am Abend vorher bei Metzger Gyr gewesen seien und Anspruch auf das erlegte Wild erhoben hätten. Das Wild sei ihnen jedoch nicht ausgehändigt worden. Ich habe daraufhin untersucht, ob überhaupt Zweifel entstehen könnten, wem das Wild gehöre. Ich kam zu der Auffassung, dass das Wildschwein in einem befriedeten Bezirk erlegt worden ist und demnach die §§ 7 und 11 des Reichsjagdgesetzes von 1934 bzw. der § 11 des Landesjagdgesetzes von Rheinland-Pfalz 1949 anzuwenden seien. Gleichzeitig habe ich die Angelegenheit der dortigen Verwaltung - Staatl. Abteilung - fernmündlich berichtet, ebenfalls dem Herrn Forstmeister in Kelberg, der meine Auffassung teilte, dass das Wild dem Hausbesitzer, in dessen Keller es sich gefangen hatte, zufallen müsse bzw. ein Verkauf zu Gunsten der Gemeindekasse erfolgen könne. Kurz darauf wurde ich von Herrn Karst, einem Angehörigen der Kreisdelegation Mayen, angerufen, der Anspruch auf das erlegte Wild erhob mit der Begründung, es sei bereits verletzt gewesen und zwar durch Jäger, die in seinem Pachtrevier Zermüllen gejagt hätten. Apotheker Stuthe hätte dem Tier nur den Fangschuss gegeben... Ich begab mich anschließend mit Apotheker Stuthe zu Metzger Gyr und dessen Sohn Paul. Eine eingehende Untersuchung des Wildes ergab, dass nur ein Einschuss zu finden war und die Kugel sich noch unter der Schwarte befand. Nach Entnahme der Kugel konnte Apotheker Stuthe sein Geschoss (7,9 mm Infanteriemunition) erkennen. Ich habe dann auftragsgemäß versucht, Herrn Karst bei der Militärregierung in Mayen zu erreichen. In seiner Abwesenheit habe ich einem französisch sprechenden Herrn das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt. Etwa eine halbe Stunde später wurde ich von Herrn Karst wiederum angerufen. Er erhob in gröbster Weise Anspruch auf das Wild. Auf meine Vorhaltungen hin, dass es doch darum ginge die Rechtslage zu prüfen und es gar nicht darauf ankäme, wer das Tier endgültig behalten dürfe, erging er sich in den unflätigsten Beschimpfungen. Er sagte schließlich, der Unterzeichnete käme ihm vor wie ein dummer Lausbub. Ich habe Herrn Karst geantwortet, dass ich mich verpflichtet fühle, dies dem Herrn Landrat in Mayen sowohl als auch dem Herrn Kreisdelegierten Saury zu melden... Der Herr Kreisdelegierte beurteilte den Fall wie folgt: Falls einwandfrei feststehe, dass das Tier zwei Schüsse erhalten habe, gehöre es dem ersten Schützen, also weder Apotheker Stuthe noch der Gemeinde Kelberg; falls jedoch bewiesen werden könne, dass das Tier nur einen Schuss und damit den des Herrn Apotheker Stuthe erhalten habe, so habe dieser einen Anspruch auf Trophäe... Nach Rückkehr des Herrn Hauptwachtmeister Köllen von der Dienstversammlung in Mayen habe ich denselben gebeten, die Feststellungen im Sinne des Herrn Kreisdelegierten zu treffen. Ich gestatte mir, dies anliegend zu überreichen. Wie darauf zu ersehen ist, steht einwandfrei fest, dass das Wildschwein nur von dem Schuss des Herrn Apothekers Stuthe getroffen und getötet wurde... Ergänzend berichte ich noch, dass es sich bei den vier Jägern, die am 11.10.1950 Anspruch auf das Tier erhoben hatten, um die Herren Milz, Laux, Hans Hörter und Schlicht (?) handelte. Herr Karst hat an dem Tag nicht in seinem Revier Zermüllen gejagt«.

Einen Tag später, am 14.10.1950, schreibt der Amtsbürgermeister von Kelberg erneut an den Landrat in Mayen: »In Ergänzung meiner Vorlage vom 13.10.1950 berichte ich, dass das Wildschwein in Kelberg geblieben ist und von mir dem Landwirt, in dessen Keller es erlegt wurde, zugesprochen worden ist. Derselbe hat einen Teil des Wildschweines den Flüchtlingen des Amtes Kelberg zur Verbesserung ihres gemeinsamen Essens am 15.10.1950 zur Verfügung gestellt. (Die Trichinenschau gemäß den Bestimmungen des Gesetzes hatte der Fleischbeschauer Matthias Schmitt von Kelberg schon Tage zuvor vorgenommen).

Herr Karst wurde durch den Herrn Kreisdelegierten in meiner Gegenwart belehrt, dass er in Deutschland den deutschen Jagdbestimmungen unterstehe«.

1 Karl-Heinz Rothenberger, Die Hungerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg, Boppard 1980, S. 259ff.

2 Chronik Kelberg, Archiv Amt Kelberg, Eintragung 22.05.1950

3 Alois Mayer/Erich Mertes, Geschichte, Kultur und Literatur der Verbandsgemeinde Kelberg, Adenau 1993,5.331.