Der Eulenspiegel von Rauhenstein

Eine Auswanderer - Erzählung von Franziska Bram Neu überarbeitet von Alois Faber, Hillesheim

Die Erzählung handelt im 19. Jahrhundert in »Rauhenstein« (Pseudonym für Hillesheim, wo die Dichterin am 26.10.1860 geboren wurde.)

Rauhenstein war vor der Französischen Revolution ein blühender Handelsort. Jedoch im 19. Jahrhundert war das vorbei. Die Zukunft sah jetzt trostlos aus. Jeder Stand hatte seine Existenzschwierigkeiten. Viele Rauhensteiner wanderten deshalb aus, vorwiegend nach Amerika. In den krummen Straßen und Gassen hinter der Stadtmauer von Rauhenstein lebten die Bauern und die »kleinen Handwerker« in schmalen, dicht aneinander gedrängten Häusern, zwischen denen hier und da ein herrschaftliches Gebäude aus alter Zeit stand. Rings um die alte Siedlung (heute die Altstadt von Hillesheim) dehnte sich im Bogen das neue Viertel mit Geschäften und den stattlichen Häusern der Wohlhabenden aus. Wer hier wohnte, gehörte zum »Stadtadel«. Allen Rauhensteinern war aber gemeinsam der große Fleiß, eine gute Portion Lebensfreude und ein gesunder Humor. Richtige Rauhensteinerwaren auch die beiden, die sich an einem lauen Herbstabend auf dem Hexenpesch am Hexenturm trafen. Es waren der Kaspar Jäger und die Cenz Riegel. Jedermann im Ort wusste, dass die beiden etwas miteinander hatten. Die Eltern der Cenz, kleine Bauersleute, wollten jedoch nichts davon wissen , denn der Kaspar passte nach ihrer Auffassung nicht in ihre Familie. Cenz, die jüngste Tochter der Riegels, war ein rechtschaffenes, fleißiges und hübsches Mädchen. Sie sei viel zu schade für den Hallodri Kaspar Jäger, sagten ihre Eltern. Auch in den Wirtshäusern wurden recht unschöne Sachen von Kaspar Jäger erzählt. Es war bekannt, dass schon viele Mädchen auf ihn hereingefallen waren, aber etwas Bestimmtes kam nie heraus. Niemand konnte ihm in dieser Hinsicht etwas nachweisen; dafür war er viel zu schlau. Viele schwiegen aber auch aus Angst, denn Kaspar Jäger war ein kräftiger und wilder Bursche, der sich nichts gefallen ließ. Von Beruf war er Uhrmacher; hatte zudem noch eine kleine Landwirtschaft. Er vernachlässigte sowohl seinen Beruf als auch seinen kleinen Ackerbau; er hatte ganz andere Dinge im Kopf. Alle diese Eigenschaften des Kaspar Jäger waren keine Empfehlung für einen Heiratskandidaten oder zukünftigen Schwiegersohn. Unter anderem war er auch noch ein großer Fastnachtsnarr, woher auch sein Spitzname »Eulenspiegel« stammte. Er und sein Freund »Fürfresser« waren die »Hauptmatadore« von Weiberdonnerstag bis Aschermittwoch. Beim Umzug am Fastnachtsdienstag, dem »Döppches-Deckelches-Zoch«, waren beide führend, besonders natürlich der Kaspar Jäger.

Wäre Kaspar in anderen Verhältnissen geboren, hätte er es zu etwas bringen können. Aber hier in dieser Enge, diesen ungünstigen Zeiten, dieser hoffungslosen Zukunft, ließ er sich einfach treiben. Das wusste er zwar selbst, aber er tat nichts dagegen. Im Gegenteil, dieses Leben gefiel ihm letztlich ganz gut. Mit seinem Christentum war es auch nicht weit her. Und seine Liebschaften hatten seinen Charakter auch nicht verbessert. Aber bis jetzt war es ihm noch ganz gut gegangen, dem Tausendsassa von Rauhenstein.

Es war nicht das erste Mal, dass sich Kaspar und Cenz an der Stadtmauer trafen. Hier war ein günstiger Platz für heimliche Zusammenkünfte. Kaspar liebte die Cenz wirklich. Mit ihr wollte er nicht nur tändeln, er meinte es ernst; er wollte die Cenz heiraten. Er wusste aber auch, dass die Eltern der Cenz niemals einer Ehe mit ihm zustimmen würden. Vielleicht, sogar wahrscheinlich, war die Auswanderung die Lösung. Zudem würde die Cenz bald 21 Jahre alt, da konnte sie selbst über sich entscheiden. Das Problem war, sich das Geld zu beschaffen, denn ohne Geld lief nichts! Der Gedanke daran ging ihm nun nicht mehr aus dem Kopfe!

Bei einem Treffen im Herbst sagte Kaspar seiner Freundin Cenz, dass er auswandern wolle; sie solle später nachkommen. Cenz machte erst große Augen. Dann dachte sie, es sei vielleicht das Beste, ein gemeinsames Leben in der »neuen Heimat« zu beginnen. Drüben, in der »Neuen Welt', war man frei. Da würde auch kein Schatten auf Kaspars Namen fallen. Und Kaspar konnte es drüben mit seinen Fähigkeiten zu etwas bringen, sie selbst würde ihn beim Aufbau unterstützen. Somit war für sie beide die Auswanderung beschlossene Sache. Woher aber nur das Geld nehmen? »Ich werde schon eine Lösung für dieses Problem finden«, dachte Kaspar Jäger immer wieder, »egal wie sie aussieht!«

So gingen einige Monate ins Land. Es wurde wieder Frühling. Eine stille und weiche Maiennacht zog herauf. Nach der abendlichen Andacht wurde es ruhig in Rauhenstein, denn der nächste Tag war ein harter Arbeitstag. Als der Mond später am Himmel stand, waren die Straßen und Gassen menschenleer. Da schlich jemand vom alten Friedhof aus auf die Seitentür der Kirche zu. Das Öffnen des Türschlosses war kein Kunststück für eine handwerklich geschickte Person. Niemand bemerkte etwas. Am nächsten Morgen kam der Küster, der die Kerzen am Altar anzünden wollte, mit schlotternden Knien in die Sakristei gestürzt und meldete dem Pastor, dass der Tabernakel aufgebrochen und die wertvolle Monstranz gestohlen sei. An diesem Morgen fand in der geschändeten Kirche kein Gottesdienst statt. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde von dem Kirchenraub durch ganz Rauhenstein. Entsetzen über die Freveltat stand in allen Gesichtern geschrieben. Polizeiliche Ermittlungen blieben ohne Erfolg; auch kein Zufall brachte Licht ins Dunkel. Der Pfarrer, der den hohen Wert der Monstranz kannte, beklagte am tiefsten den Verlust des alten Kunstwerkes. So ging der Sommer vorbei, auf niemanden fiel ein Verdacht, auch auf Kaspar Jäger nicht. Im Herbst begann eine neue Auswandererwelle in Rauhenstein. Wenige Monate später, fast ein Jahr nach dem Kirchenraub, wanderte auch Kaspar Jäger aus. Seinen Besitz hatte er billig verkauft; aber was soll's: Amerika lockte!

Die Cenz weinte ihm bittere Tränen nach, ihre Eltern dagegen waren froh, dass man den ungeliebten Kaspar Jäger losgeworden war. Cenz dagegen war in der Folgezeit still und bedrückt. Eines Tages, sie war nunmehr bereits einundzwanzig Jahre alt, erklärte sie ihren Eltern, dass sie auch nach Amerika auswandern wolle. Die Eltern waren außer sich und setzten alle Hebel in Bewegung, um dies zu verhindern. Doch die Cenz blieb bei ihrem Entschluss, erst recht da Kaspar ihr das Reisegeld geschickt hatte. So ging sie an einem frühen Sommermorgen zur Bahnstation ins Kylltal. Der Vater war verärgert zu Hause geblieben; die Mutter begleitete jedoch ihre Tochter zum Zug. Sie sagte Cenz Lebewohl und ging weinend zurück nach Rauhenstein. Es war ihr, als hätte sie ihre Tochter für immer verloren.

Bald kam der erste Brief aus Amerika. Die Cenz wusste nur Gutes zu berichten. Sie hatte gleich ihren Kaspar geheiratet. Auch spätere Schreiben berichteten nur Gutes. Kaspar Jäger erwarb im Laufe der Zeit ein florierendes Geschäft in Uhren und Goldwaren; Cenz eröffnete einen kleinen Modesalon. Ein eigenes Haus, zwei Jungen und zwei Mädchen vollendeten ihr Glück. Im Laufe der Zeit wurden die Nachrichten von »Drüben« immer spärlicher und blieben mit Beginn des l. Weltkrieges ganz aus. Einige Jahre nach diesem Weltbrand suchte ein junger Amerikaner den Pfarrer von Rauhenstein auf. Dem Pastor sagte er, er sei der Enkel des Rauhensteiner Auswanderers Kaspar Jäger und habe einen Brief des Großvaters für ihn. Der Pastor öffnete neugierig den dicken Umschlag. Erst fiel ihm eine Bankanweisung über einen sehr hohen Dollarbetrag in die Hand. Dann las er aufmerksam den Text. Es war die Beichte des Kaspar Jäger. Er gestand darin, dass er die Monstranz aus der Rauhensteiner Kirche geraubt und mit dem Verkaufserlös seine und seiner Braut Cenz Auswanderung nach Amerika finanziert habe. Er habe Glück gehabt und sei reich geworden. Doch sein Gewissen gäbe ihm keine Ruhe. Er wolle dies nun entlasten und den Schaden wieder gutmachen, damit er in Ruhe sterben könne. Auf dem Briefbogen standen folgende Sätze: »Was ich Ihnen hier schicke, soll eine Wiedergutmachung für meinen Kirchenraub sein mit Zins und Zinseszins, wie es sich gehört. Verwenden Sie es, wie Ihnen gut dünkt.« Er entschuldigte sich für seine Tat und fügte hinzu: »Ich habe mich nicht nur an Gott versündigt, sondern auch an ihnen.« (gemeint sind die Rauhensteiner). Der Brief endet mit dem Satz: »Ich grüße die alte Heimat, der ich so Schlimmes angetan habe und grüße Sie, Herr Pastor, den Nachfolger des guten Mannes, dem ich einst so großen Schmerz angetan habe. Kaspar Jäger."