Eine Dose voll Geschichten
Hildegard Kohnen, Brühl
Die Dose, von der ich er­zählen möchte, ist randvoll mit Knöpfen, und jeder von ihnen hat eine Geschichte. Jetzt warten sie gemeinsam und mit großer Vorfreude in der dunklen Schublade eines Nähtisches auf ihren wöchentlich Einsatz. Ihr Da­sein wäre ein trübes und langweiliges dazu, gäbe es nicht ein kleines verspieltes Mädchen, welches Lena heißt und das sie alle gern haben. In ihrem ersten Leben war die einstmals grünlackierte und üppig mit Gold verzierte Dose ein Geschenk an die Großmutter aus einem Eifel-dorf von ihrem Sohn, der in der Stadt lebte. Die Großmut­ter hatte sie wie ihren Aug­apfel gehütet und noch viele Jahre später als Gefäß für Weihnachtsplätzchen genutzt, bis sie vom häufigen Ge­brauch unansehnlich und un­dicht geworden, ein wenig abgewertet der Familie nur noch als Knopfdose diente. In alten Zeiten wurde ohne Grund nichts weggeworfen. Es war ein Sammelsurium von großen, kleinen, dicken, dünnen, runden und eckigen, solchen aus Horn und Holz, aus Glas und Perlmutt, aus Metall und mit Stoff überzo­genen Knöpfen! Als die Großmutter starb, übernahm Anna, die älteste Tochter, die Dose, bediente sich aus ihr und füllte sie munter weiter, wenn sie einen
herrenlosen Knopf fand. Schon in ihrer Kindheit hatte sie damit gespielt. Das immer nur knapp vorhandene Geld für Firlefanz auszugeben, wie die Großmutter es nannte, wäre eine Todsünde gewesen. Selbst eine Puppe sein eigen zu nennen, war damals schon viel, obwohl sie meistens ererbt war. Doch die bunten Knöpfe hatten Annas Fantasie beflügelt und immer wieder hatte sie sich neue Spiele aus­gedacht.
Jetzt ist die Dose mit Inhalt auf ihrer Generationenwan­derung bei Eva, Annas Toch­ter, angekommen. Dort wird sie wie ein kostbarer Schatz aus alter Zeit gehütet. Denn da ist Lena, die Enkelin, die genau so gerne damit spielt, wie einst ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmut­ter.
Die Dose mit den Knöpfen rangiert bei Lena an aller er­ster Stelle, ist ihr Lieblings­spielzeug, trotz all dem erzie­herisch wertvollen Spielzeug, das es heute gibt. Immer, wenn die Schublade bewegt wird, scheppern die Knöpfe leise in ihrem Gehäu­se. Erwachen aus ihrer Knopflethargie. Berühren sich und reden bisweilen mitein­ander. In der Knopfsprache natürlich, so wie alle Knöpfe es tun, besonders die Alten, die was zu erzählen haben. Heute jedoch ergreift ein win­ziger, noch ziemlich junger
Perlmuttknopf mit einem rie­sigen Seufzer das Wort. Er seufzt so laut, wie winzige Knöpfe mit äußerster Kraft eben seufzen können. »Du da, du raues Ungetüm, ja, dich meine ich, rutsch rüber«, schilt es ungehalten einen Hosenknopf aus, der ihm un­freiwillig etwas zu nahe ge­kommen ist und es halb ver­deckt hat. »Du versperrst mir die Sicht. Mit welchem Recht machst du dich so breit? Ich brauche Platz, viel Platz! Wie soll ich so je entdeckt werden. Ich möchte endlich hier raus und wieder ein Herrenhemd zieren. Ein Hemd, dem ein Knopf fehlt und mit einem richtigen Mann drin. Deshalb muss ich ganz oben liegen. Dicker schwarzer Bruder, ver­zieh dich und mach den Weg frei, verflixt und zugenäht«, wagt es sogar nach alter Schneiderart zu fluchen. Das ist für so ein kleines Knöpf­chen wirklich allerhand! Der gutmütige Hosenknopf lächelt und meint: »Gemach, gemach, Schwesterchen, im­mer schön langsam. Wer will dir denn was, du winziges Nichts. Du schwafelst hier rum, ohne Komma, ohne Punkt, und was heißt über­haupt zieren? Wir sind bloß Gebrauchsgegenstände! Nütz­liche zwar! Aber mehr nicht! Die Wenigsten dürfen sich Schmuckstücke nennen. Ich jedenfalls, hab keinen Bock mehr auf Hosen und mich mit
dem geruhsamen Dosenda­sein abgefunden. Diese tägli­che Plackerei - Hose auf, Hose zu, ist dem Himmel sei Dank, für alle Zeiten aus und vorbei. Strapazen waren das, nichts als Strapazen! Wie war es denn früher? Kein Mensch besaß, so wie heute, die Ho­sen im Dutzend. Außer den Reichen. Jeder normale Mann schätzte sich glücklich eine Einzige zu besitzen, bis auf die Sonntagshose, und die musste oft zweimal in die Kir­che. Ich war an so einer, mit Peter in der Frühmesse, und umgeschlagen und zweimal umgekrempelt mit dem jün­geren Paul ins Hochamt. So war das damals, du vorlautes Ding, du. Ich war oft im Ein­satz. Zuerst Sonn- und Feier­tags, und als der Sonntag raus war, wie die Bäuerin es nann­te, tagtäglich bei der Arbeit. Später kam ich als Wander­knopf von Hose zu Hose. Ich weiß genau, wovon ich rede!« »Mein Gott, hab dich nicht so, schließlich bist du nur ein ge­meiner Hosenknopf und alt. Ich will noch was erleben und nicht so enden wie du«, zieht das freche perlmutterne Ding weiter putzmunter vom Leder. Der Alte tut, als höre er nicht zu. »Bin ich froh, dass es jetzt Reißverschlüsse gibt, geprie­sen sei ihr Erfinder«, sagt er. »Die Ruhe hab ich mir wirk­lich verdient. Mir genügt es, wenn Lena uns mit einer dicken Nadel an einem roten Faden aufreiht, um Knopf-Ketten-Achterbahn zu spie­len. Hei, wie da die Post ab­geht! Wir, die ausgedienten Knopfrentner, spielen dann wie Kinder. Wo gibt es sonst
noch so was auf der Welt?« Der Alte ist unfreiwillig zum Sprecher aller Dosenbewoh­ner geworden. Die rasseln be­geistert scheppernd und ein­mütig Beifall. »Und übrigens -haben auch Anna und Eva mit uns gespielt, zwar ein bis­schen anders, aber dafür öf­ter«, beendet er mit Stolz in der knarzigen Knopfstimme seine lange Rede«. »Alter Angeber! Achterbahn! Roter Faden! Stumpfe Nadel! Ich kann das nicht mehr hören«, giftet jetzt der Kleine beleidigt aus allen vier Löchern. »Ich durfte ja nie mitspielen. Meine Öffnungen sind für die Kette zu fein und zuschauen, wie ihr euch amü­siert? Nein danke! Da möchte ich lieber an ein Hemd mit ei­nem Mann drin. Selbst wenn ich dann wieder in die ekel­hafte Waschmaschine müsste und hinterher vom heißen Bügeleisen plattgewalzt wür­de. Alles ist besser, als hier dumm zu liegen«, lamentiert er weiter und kann sich gar nicht beruhigen. »Ein Hemd vom Hannes, wäre mein Wunsch. So bliebe ich sozu­sagen in der Familie. Und -ich glaube nicht, dass der Hannes, jemals mit euch ge­spielt hat. Die blöden Knopf­spiele sind doch ausschließ­lich Mädchenkram«, schießt das klitzekleine Biest mit zar­ter Stimme schnell noch ei­nen Giftpfeil in die Richtung des alten Hosenknopfes und seine perlmutterne Haut schimmert unschuldig und rein.
Unerwartet schwingt sich plötzlich ein strassverzierter, zartgelber Sechseckiger auf
und fährt dem scheinheiligen Aufwiegler in die Parade: »Was weißt denn du schon vom Hannes, he? Ich, ja, guck nicht so blöd, ich war ein Zierstück an Evas Kleid, das sie trug, während er unter­wegs war und spürte ihn, ehe jemand ihn sehen konnte. Natürlich hat er als Junge mit uns gespielt. Nur eben bei Re­gen und manchmal auch heimlich. Später als er größer war, seltener! Das stimmt! Aber wir waren immer das Frachtgut auf seiner Eisen­bahn. Damals gab es dich noch nicht in der Dose, du eingebildeter rotz frecher Winzling. Keine Ahnung hast du, von dem, was wir ge­meinsam erlebt haben«. Und wieder rasseln die Knöp­fe einstimmig Zustimmung. Der Kleine schweigt er­schrocken. Au weia, denkt er, aus zwei Ecken Dampf, das kann gefährlich werden und plant insgeheim den Rückzug. Der alte Hosenknopf meldet sich noch einmal, diesmal ziemlich ironisch, so als näh­me er das Knöpfchen nicht für voll, was er auch nicht tut: »Jetzt hörst du mir einmal gut zu! Natürlich spielen Jungs im Großen und Ganzen nicht mit uns! Aber wenn -lassen sie sich niemals erwi­schen. Und wenn ich niemals sage, meine ich auch niemals! Jungs sind schlau und geris­sener als Mädchen. Hast du das verstanden?« Der kleine Ruhestörer ist plötzlich still geworden. Mit diesen Reaktionen hat er nicht gerechnet. Kleinlaut ge­worden murmelt er: »Ent­schuldigt, entschuldigt!
Glaubt mir, so war das alles nicht gemeint, ihr Lieben. Ich möchte keinen Streit, sondern nichts anderes, als hier raus!« Gutmütig nicken die anderen und verzeihen dem aufmüpfi­gen Kleinen. Knöpfe sind ver­söhnliche Wesen und kneifen nur, wenn jemand sie falsch anmacht.
Harmonie und Ruhe herr­schen jetzt wieder in der Do­se. Tage vergehen. Es ist still in der Wohnung. Eva ist ver­reist. Ab und zu seufzen die Knöpfe leise vor sich hin. Seufzen befreit. Lena fehlt ih­nen. Manche träumen von ihr. Süß sieht sie aus mit ihren blonden Zöpfchen, den strah­lenden Augen, und wenn sie lacht, wird es ihnen wohlig­warm um sämtliche Knopf­herzen.
Gottseidank! Endlich! Eva ist wieder zu Hause. Susi, die Katze, saust übermütig mit ihrem Glöckchen durch alle
Zimmer und spielt verrückt. Temperamentvoll wird ur­plötzlich die Schublade des Nähtischchens aufgerissen, dass die Knöpfe in der Dose wild umher tanzen. Sie hören wohlbekannte Stimmen, die von Eva, Hannes und Kathi, seiner Frau, dazwischen jauchzt Lena.
»Dann wollen wir mal«, sagt Eva zu ihrem Sohn, greift nach der grünen Dose und öffnet sie. Die Knöpfe zittern erregt. Evas Hand verschwin­det im Knöpfemeer und taucht mit einem Etwas aus Perlmutt auf. Winzig liegt es in ihrer Hand. Sie lächelt und denkt: Seltsam! Jeder Knopf hat seine Geschichte. Dieser hat eine besondere. Lang ist es her? Vergessen? Nein! Aber vorbei. Was bleibt, sind Erinnerungen und die werden jetzt liebevoll, gefasst in Perlmutt, dem Han­nes ans Hemd genäht.
»Sieh mal, es passt genau zu den anderen«, ruft Kathi und holt Eva in die Gegenwart zurück. Mit Nadel und Faden und flinker Hand zaubert sie ein überglückliches Kragen­knöpfchen an ein Männer­hemd. Allerdings nur an die Manschette. Den sozialen Abstieg nimmt der Kleine ohne zu Murren in Kauf. Hauptsache, er glänzt wieder an einem Hemd mit einem richtigen Mann drin.
Inzwischen hat Eva mit Lena die bunten Knöpfe mit stump­fer Nadel auf einen dicken, roten Faden aufgereiht. Und ein perlmutternes Knöpfchen, dessen Farbenspiel heute im Gegenlicht besonders schön leuchtet, schaut aus allen vier Löchlein zu, wie drei Genera­tionen und Susi die Katze, samt Glöckchen, mit dem größten Spaß Knopf-Ketten-Achterbahn spielen.