Durch Viktoria vom Trauma
befreit |
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Maria-Agnes Pinn, Steffeln |
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Im November 1944 hatten meine
Freundin Maria und ich, wir waren gerade sechs Jahre alt, ein schlimmes
Erlebnis. An unserem Haus in Steffeln fuhr ein Jeep vorbei, auf der
Motorhaube war ein blutüberströmter, toter Soldat festgebunden. Das
Fahrzeug wendete an der nächsten Kreuzung und kam noch
ein- |
mal unsere Straße hoch an uns
vorbei. Das Ganze wiederholte sich nochmals, warum wusste niemand.
Seither verfolgten uns nachts immer die schrecklichen Bilder vom
toten Soldaten. Wochenlang ging das so. Unsere Eltern litten mit uns,
weil wir in unserer Angst nach ihnen schrien. Meine Eltern
wuss- |
ten, dass ich mir nichts
sehnlicher wünschte, als eine schöne Puppe. Um mich auf andere
Gedanken zu bringen, sagte mein Vater zu mir: „Wünsch dir doch vom
Christkind eine schöne Puppe!" Nach diesem vielversprechenden
Vorschlag verblasste langsam das Bild vom toten Soldaten und ich träumte
von |
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einer eigenen Puppe. Weihnachten
1944 lag sie tatsächlich für mich unter dem Christbaum. Viel schöner,
als ich sie mir erträumt hatte. Bei der Namenssuche für meine Puppe waren
mir meine Eltern behilflich, gemeinsam suchten wir den Namen
„Viktoria" für sie aus. Den ganzen Tag über hielt ich Viktoria fest im
Arm, so glücklich war ich. Abends nahm ich sie mit ins Bett. Am
Stephanstag, dem 26. Dezember 1944, trug ich gerade meine Puppe im
Flur spazieren, als am Ortsrand ein großer Bombenteppich fiel. Die
Detonationen der Bomben erschraken mich derart, dass Viktoria mir aus den
Händen glitt und zu Boden fiel. Beim Aufschlag auf die Steinplatten
in unserem Flur wurde Viktorias Porzellankopf stark beschädigt. Ich war
sehr traurig und weinte herzzerreißend. Zu allem Unglück kam kurz
darauf Paul, ein Junge aus unserer Nachbarschaft vorbei. Beim Anblick
meiner Puppe meinte er nur: „Die ist tot, morgen wird sie
beerdigt!"
In den Kriegsjahren hatten wir
Kinder so viel über Tote und Beerdigungen gehört, allein in unserer
Nachbarschaft sind zwölf junge Männer gefallen, darunter auch zwei Brüder
von Paul. Diese Erfahrung erklärt im Nachhinein, warum Paul so
nüchtern mit dem zertrümmerten Puppenkopf umging und, obwohl er meine
Trauer damit noch vergrößerte, gab er keine Ruhe und rief noch
einmal: „Die ist tot! Mausetot und wird beer- |
digt." Mein Vater hörte Pauls
Sprüche und kam mir zu Hilfe: „Das könnte dir so passen", wies er Paul
zurecht, „vielleicht sollen wir auch noch einen Ofen voll Hefekuchen für
den Beerdigungskaffee backen." Mein Vater wusste, dass Paul für sein Leben
gern bei uns vesperte. „Viktoria ist nicht tot", tröstete er mich, „ da
machen wir ein Pflaster drauf und dann wird alles wieder gut." Mir fiel
ein Stein vom Herzen. Nachdem mein Vater Viktoria verarztet hatte, nahm
ich sie in meinen Arm und ich glaubte fest daran, dass sie wieder gesund
würde, schließlich wurde ein Jahr zuvor mein gebrochenes Bein auch wieder
heil. Nach Kriegsende packte mein Vater eines Tages Butter, Schinken und
Speck in seinen Rucksack und fuhr mit dem Fahrrad nach Hillesheim. Dort
tauschte er die Naturalien gegen einen neuen Porzellankopf für meine
Puppe. Im Dezember 1945 verschwand Viktoria plötzlich und meine Freude war
noch viel größer als ein Jahr zuvor, als sie am Weihnachtsmorgen mit einem
neuen Kopf und neuen Kleidern wieder unter dem Christbaum lag. Später
erzählten meine Eltern mir von Viktorias Herkunft: Bei uns war ein
österreichischer Soldat einquartiert. Der Soldat hatte mitbekommen,
wie sehr ich mir eine eigene
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Puppe wünschte. Im Herbst 1944
musste er zu Kampfeinsätzen nach Belgien ausrücken. Sechs Wochen
später kam er beim Rückzug wieder nach Steffeln. In Belgien hatte er
eine Puppe für mich gefunden und sie meinen Eltern mit der Bitte
gegeben, sie mir zu Weihnachten zu schenken. Der Name des Soldaten war
Viktor, dies erklärte auch den Vorschlag meiner Eltern für den Namen der
Puppe. Heute hat dieser Name für mich einen doppelten Sinn, denn Viktoria,
die Siegerin, half mir in den schlimmsten Kriegswirren und auch über den
Krieg hinaus, Angst und Schrecken zu besiegen. Viktoria begleitete
mich durch meine ganze Kindheit und zu unserer Freude haben wir
erfahren, dass auch Viktor den Krieg außer ein paar kleinen Blessuren
heil überlebt hat. |
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