Kriegsgefangenschaft
Anfang nach dem Ende
Johann Baptist Holzem, Ü x h e i m - H ey r o t h
Zuerst war es ein Morgen wie jeder andere, damals am 8. Mai 1945, im Gefangenenla­ger der Schwarzmeer-Stadt Tuapse. Quälender Hunger weckte schon früh die meis­ten von uns und erinnerte gleichzeitig leidvoll daran, dass wieder mal ein trostloser Tag begann, an dem wir mit einer Kelle dünner Wasser­suppe im rebellierenden Magen, weichen Knien und kraftlosen Armen zur Arbeit in den Hafen trotteten. Noch schwängerte ein übler Mief von abgestandener Atemluft die Baracke und vermischte sich stickig mit
der Ausdünstung unserer zer­lumpten Uniformen, die wir schon seit Monaten Tag und Nacht trugen, weder ausgezo­gen noch gewechselt hatten. Dann auf einmal war dieser Morgen schlagartig nicht mehr einer von den vielen deprimierenden Morgen der vergangenen neun Monate. Mit lauter, fast brüllender Stimme schrie der deutsche Lagerführer in unsere riesige Baracke hinein: „Der Krieg ist aus, Hitler ist tot!" Für einen Moment war jede Stimme unter den Gefangenen ver­stummt - dann aber brach ein orkanartiges „Hurra, Hurra,
Hurra, Hurra!" aus mehreren hundert Kehlen und viele stürmten in freudiger An­wandlung nach draußen. Auch ich war mit nach draußen gestürmt. Vom Lager aus konnte man direkt auf das nahe Schwarze Meer blicken. Tiefbewegt stand ich inmit­ten meiner aufgewühlten Mit­gefangenen und schaute fast unbewusst dem ruhigen Wellengang des Schwarzen Meeres zu, um gleichzeitig ein seltenes Schauspiel wahr­zunehmen, als der Buckel eines ziemlich großen Fisches mehrere Male aus dem Wasser hochschnellte und ebenso oft
wieder eintauchte. Solche spielerischen Riesensprünge größerer Fische dort im Schwarzen Meer waren mir bisher noch nie aufgefallen. Und ich dachte wirklich in diesem Moment: „Sogar die Fische freuen sich jetzt!" An diesem Tag, dem 8. Mai 1945, zogen wir nicht wie an jedem anderen Tag zuvor zum Hafen. Vom Lager aus waren ringsum feiernde und betrun­kene Russen zu sehen. Nie­mand arbeitete, und daher war auch für uns ein arbeits­freier Tag. Ein Tag, an dem wir froh über unsere ver­meintliche, baldige Heimkehr redeten. Aber es verstrichen noch Wochen und Monate. Nicht viel Positives hatte sich nach der deutschen Kapitula­tion für uns Kriegsgefangene ereignet. Im Gegenteil, fast moralisch erdrückt mussten wir öfters von den Russen hören: „Ihr werdet zuerst wie­der aufbauen helfen, was ihr in Russland zerstört habt." Aber auch der russischen Bevölkerung schien es nach Kriegsende nicht besonders gut zu gehen. Auch bei ihr herrschte, wie man unschwer erkennen konnte, Nahrungs­mittelknappheit. Brot stand hoch im Kurs, wenn auch nicht gerade so hoch wie bei uns Gefangenen. Und es war keine Seltenheit, einen Offi­zier im Hauptmanns- oder Majors-Rang nach Feierabend mit einem großen Kastenbrot unter dem Arm nach Hause gehen zu sehen. Der Mangel an tierischen und pflanzli­chen Speisefetten konnte zwar von der Zivilbevölke­rung auf dem Basar etwas
ausgeglichen werden, was bei uns Gefangenen aber nicht der Fall war und demzufolge zu den großen Ernährungs­schäden und Krankheiten führte. Dagegen war es der humanen Behandlung seitens der Russen im täglichen per­sönlichen Umgang mit uns zuzuschreiben, dass wir trotz unzureichender Ernährung nicht auch noch in größerem Umfang psychisch zusam­mengebrochen sind. Trotzdem waren viele von uns nach drei Jahren Gefangen­schaft körperlich und kräfte­mäßig so weit am Ende, dass selbst die Russen keinen Sinn mehr erkennen konnten, uns weiter im Aufbauprozess ein­zusetzen. Unter diesen Um­ständen war es auch mir Ende 1947 vergönnt, nach drei­jähriger Gefangenschaft wie­der nach Hause zu kommen. Ich brachte zwar nur noch 40 Kilogramm auf die Waage, aber immerhin durfte ich die Heimat wieder sehen. Um so erschütternder war die Bahn­fahrt von Frankfurt/Oder nach Ulm und von dort später meist den Rhein entlang in die Eifel. Ich hatte das letzte dreiviertel Kriegsjahr bereits in der Gefangenschaft ver­bracht. Daher wirkten die im­mer noch vorhandenen Spu­ren von den Bombenangriffen auf Deutschland - gerade in den letzten Kriegsmonaten -wie ein Schock auf mich. Zugleich wurde ich von einer ungeheuren Wut erfasst, weil diese Zerstörungen augen­scheinlich nur den Zweck hatten, weniger die Soldaten, dafür mehr die Frauen, Kinder und alten Leute in die
Scheußlichkeiten des Krieges mit einzubeziehen und ihnen das Letzte zu nehmen. Aber je näher ich meinem Heimatdorf in der Eifel kam, desto schwerer fiel es mir, all das zu verarbeiten, was mir augenblicklich vorkam wie ein Wechselbad zwischen den ständigen Gedanken an die Gefangenschaft, der ich so­eben entronnen war, und der Freiheit, die augenblicklich Wirklichkeit für mich wurde. Erst Wochen später wurde mir immer klarer, dass ich aus ei­nem Land gekommen war, im dem das Geld, der Rubel, un­geheuer viel bedeutete, aber hier in Deutschland musste ich feststellen, dass das Geld fast nichts mehr wert war und man am liebsten Ware gegen Ware handelte. Doch was offenbar ebenso gesucht und rar war wie in Russland, war Speisefett jeglicher Art. Auch das streng durchgeführte Sys­tem der Lebensmittelmarken und Bezugsscheine konnte nicht gewährleisten, dass den Menschen das Notwendigste ausreichend zur Verfügung stand. Und so war es ganz verständlich, dass sich so mancher aufmachte, um beispielsweise ein Kleidungs­stück gegen ein wenig Speck oder Butter einzutauschen. Hamsterer nannte man jene Leute, die die Not aus der Stadt trieb, um auf dem Land etwas Essbares für ihre Fami­lien zu ergattern. Doch wenn der Hamsterer Pech hatte, wurde ein mühsam erstande­nes Pfund Butter wieder beim Wechsel von der französi­schen in die britische Zone von der Polizei beschlag-
nahmt. Schließlich war eine solche Lebensmittelbeschaf­fung von der Militärregierung verboten worden. Umgekehrt waren in dieser Zeit nötige Anschaffungen ebenfalls nur auf ähnlich ku­riose Weise möglich. An ein Fahrrad gelangte ich damals so: In einem alten Radiogerät, welches 1940 von den Ein­quartierungssoldaten nur leidlich intakt zurückgelassen worden war, hatte ich eine dünne Trennwand aus Sperr­holz zwischen der Skalawand und den Röhren eingebaut, um dahinter mindestens drei Pfund Butter zu verstauen. Auf dem Weg nach Köln nahm auf dem Bahnhof Jün-kerath ein Kontrollbeamter das Radiogerät in Augen-
schein, gab es mir aber ohne Verdacht zu schöpfen wieder zurück. So kam ich mit mei­ner „heißen Fracht" an mein Ziel, handelte die Butter und einige hundert Inflations-Mark gegen ein Fahrrad ein und radelte anschließend zurück nach Hause in die Eifel.
Aber einen besonders krassen Fall erlebte ich 1947, einem extrem trockenen und regen­armen Jahr. Gleich sieben Lastwagen fuhren im Auftrag des Ernährungsamtes der französischen Besatzungszo­ne in unser Dorf ein. Die Last­wagen sollten mit Kartoffeln beladen werden, obwohl die gerade einmal sechzehn Kleinbauern wegen des wenig fruchtbaren Jahres kaum ge-
nug für ihre eigenen Familien hatten. Da aber nur ein einzi­ger Lastwagen halbwegs mit Kartoffeln voll beladen wer­den konnte, wurde angeord­net, von jedem Gemeinderats­mitglied eine Kuh zu be­schlagnahmen. Damals nannte ein Bauer drei bis fünf Kühe sein eigen. Meinen Nachbarn, der dem Gemein­derat angehörte, sah ich weinen, als eine von seinen Kühen aus dem Stall geführt und zusammen mit weiteren anderen auf den Lastwagen abtransportiert wurde. Nachdem ich dies mit angese­hen hatte, bin ich für eine Woche nach Düsseldorf zu meinem Vetter gefahren. Ich musste Abstand gewinnen von dem, was ich erlebt hatte.