Kindheit auf der Löwenburg
Maria Aschemann-Horsch, Gerolstein
War das ein Vergnügen hoch oben auf dem Burgfels aufzu­wachsen, umgeben von erst­klassigen Burgmauerver­stecken und geeigneten Kletterbäumen. Nicht nur wir Horsch-Geschwister genossen es, auch die fünf Kinder der Familie Neuß, die damals bei uns wohnten. Hinzu kamen auch noch Schulfreunde von unten aus dem Flecken. Denn auf der Burg - und trotzdem nah der Stadt mit ihren schmalen Straßen und ver­winkelten Ecken - bot sich uns allen das reinste Naturpa­radies.
Dieses besondere Stück Erde war schon unserem Vater, Peter Horsch sen. und dessen Vorfahren Heimat gewesen, denn ihnen gehörte einmal dieser gesamte Bereich, Vor-und Hinterburg, mitsamt der großen Schildmauer. Doch nach dem Kauf dieses Areals erwiesen sich die geforderten Sicherungsmaßnahmen der Ruinenteile als derart kost­spielig, dass unser Ur-Urgroß-vater die Hinterburg verkauf­te. Die große Schildmauer, der besterhaltene Teil des ehema­ligen Residenzschlosses der Grafen zu Manderscheid-Gerolstein, schenkten meine Eltern, Peter und Katharina Horsch 1980 der Stadt Gerol­stein.
Doch für uns blieb das ge­samte Areal auf dem Burgfel-
sen ein Kindheitsparadies. Und was gab es alles zu be­obachten! Die Rehe kamen zu uns herauf, Füchse hatten hier ihre Gänge, Eichhörn­chen knackten geschickt Nüsse in den hohen alten Walnussbäumen. Rotkehl­chennester gab es im alten Gemäuer, und wir sahen das geschäftige Hin und Her der fütternden Eltern. In der Mor­gensonne beobachteten wir die Fähe, die mit ihren Jun­gen spielte. In der Dämme­rung schrie das Käuzchen. Und wenn die Herbstnebel von der Kyll her den Ort lang­sam und völlig bedeckten, sa­hen wir von unseren Fenstern jenseits nur noch Munterley, Auberg und Hustley hervor­ragen. Wir fühlten uns mit unseren Eltern in der warmen Stube, bei knisterndem Feuer, wie die alleinigen Bewohner auf einer sicheren Felseninsel im Nebelmeer. Unser Vater hatte gesorgt, dass jedes Jahr zu Weihnachten eine große Tanne lichtergeschmückt nicht weit von unserem Haus erstrahlte und die Kinder im Flecken glaubten, der Lichter­baum stünde hoch oben im Weihnachtshimmel. Doch unsere glückliche Kin­derzeit fand ein jähes Ende: Vater wurde eingezogen und musste als Soldat nach Est­land. Dann zog Familie Neuß fort und wir verloren auf
einen Schlag fünf unserer Spielkameraden. Im Herbst 1944 begann die schwere Bombardierung von Gerol­stein, das nahezu völlig zer­stört wurde. Nur Angst und Schrecken beherrschten jetzt unser Leben. Erst suchten wir noch Schutz in einer Höhle des Burgfelsens. Als dieser bombardiert wurde, mitsamt den Türmen und Ruinen der Hinterburg, wussten wir, selbst hier oben waren wir des Lebens nicht mehr sicher. Wir flohen in den Wald, suchten Schutz in einer selbstgebau­ten Hütte.
Als die Bombardierungen aufhörten, konnten wir end­lich heim auf die Burg. Vom Haus stand nur noch die Hälf­te - und 1945 sollte doch meine erste hl. Kommunion sein! Wie sehr hatte ich mich auf dieses große Fest gefreut. Weil soviel in Trümmern lag, musste das Fest von Weißen Sonntag auf Christi Himmel­fahrt verlegt werden. Doch wie sollte das ein richtiges Kommunionfest werden? Wir hatten weder Gebetbuch noch Rosenkranz, noch Kerze. Aber Tante Marga hatte noch weiße Seide für eine Bluse liegen. Daraus nähte sie mir ein wun­derschönes Kommunionkleid. Ich war so stolz! Von Dechant Molter wurden wir gut auf unsere erste hl. Kommunion vorbereitet. Wir
Kinder erlebten so, trotz allem Mangel, eine unvergessliche, sehr würdige Kommunionfei­er, in der mit Blumen und brennenden Kerzen ge­schmückten Kirche, die mit dem Kirchenchor unter Lei­tung von Carl Breuer festlich gestaltet wurde. Und doch lag ein großer Schatten über die­sem Fest für unsere Familie. Es war nicht, weil die Hälfte des Hauses fehlte, unser Vater fehlte. Jeden Tag hatten wir sehnlichst auf eine Nachricht von ihm gewartet. Es kam kein Lebenszeichen von ihm, und wir beteten täglich für seine baldige Heimkehr aus der Gefangenschaft. Ende Juni kam das Fest Peter und Paul. Unsere Mutter, Tan­te Cilly und ich gingen nach Kalenborn-Scheuern, wo wir
Honig gegen Butter und Brot eintauschten. Froh über unse­ren Erfolg kehrten wir mit den Kostbarkeiten heim. Mutter deckte den Tisch und Tante Cilly kochte Kaffee aus gemahlenen gerösteten Eicheln. Bald saßen wir zu­sammen um den Tisch - und dachten an Vater. Mutter sag­te traurig: »Jetzt fehlt nur noch unser Namenstagskind!« Während wir uns noch darü­ber unterhielten, kamen zwei fremde Mädchen. Sie brach­ten Grüße von unserem Vater, er sei auf dem Weg nach Hause. Er hatte sie vorausge­schickt, um uns behutsam auf die freudige Rückkehr vorzu­bereiten.
Meine Aufgeregtheit war unbeschreiblich. Im Über­schwang der Freude lief ich
aus dem Haus und durchs Burgtor hinaus, den Pfad hin­unter zum Nachbar Lehnert und rief immer wieder: »Mein Vater kommt! Mein Vater kommt!«
Ich lief zurück und hörte nicht auf, mich an der Tatsa­che und dem wunderbaren Satz zu freuen: »Mein Vater kommt!«
Bereits auf dem Hof hörte ich die glücklichen Stimmen meiner Geschwister, ich riss die Tür auf und fühlte mich plötzlich fest und herzlich vom Vater in die Arme ge­nommen.
Diesen Glücksmoment kann man nicht beschreiben! Wir waren alle wieder zusammen, am Namenstag meines Vaters, das wundervollste Peter und Paul-Fest.
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