Ein Tag, den ich nie vergessen werde
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Die Evakuierung von Jünkerath
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Wilma Schmitz, Jünkerath
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Schon
Tage vorher war bekannt geworden, dass die Jünkerather Bevölkerung
evakuiert werden sollte. Meine Mutter - mein Vater und der ältere
Bruder waren Soldat - hatte sich gesträubt, mit uns Kindern im Alter
von 15, elf und fünf Jahren der Aufforderung zu folgen. Aber nach dem
Gespräch mit dem damaligen Bürgermeister war ihr wohl klar geworden,
dass sie auf staatliche Hilfe angewiesen war und der Evakuierung wohl
oder übel zustimmen musste. Schnell wurden die nötigsten Sachen
gepackt, das Gewichtslimit war bald erreicht. Für mich als elfjährige
war meine Puppe und der Schulranzen ganz wichtig. Der musste
allerdings mit Speck und Wurst vom geschlachteten Schwein gefüllt
werden. Am 16. September 1944 war es dann so weit. Ein Soldat, der bei
uns im Quartier war, brachte uns mit dem Gepäck zum Bahnhof. Dort
herrschte gedrückte Stimmung unter den Leuten, jeder hing seinen
eigenen Gedanken nach. Bei Einbruch der Dunkelheit setzte sich der Zug
in Richtung Dümpelfeld in Bewegung. Von dort ging es weiter nach
Remagen. Hier war erstmals ein längerer Aufenthalt. Auf
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dem
nebenliegenden Gleis stand ein Soldatenzug, die Soldaten fragten nach
unserer Herkunft und einer meinte, in vier Wochen seid ihr wieder zu
Hause, dann ist der Krieg vorbei!
Um
Mitternacht ging die Fahrt weiter über die Rema-gener Brücke auf die
andere Rheinseite und am frühen Morgen hielt der Zug in Au an der Sieg.
Dort wurden wir zunächst mit Essen und Trinken versorgt. Stunden
später befanden wir uns in LKW's verfrachtet auf dem Weg nach
Bruchertseifen, einem kleinen Ort im Westerwald. Hier wurden wir an
der Straße vor einem Gasthof ausgeladen und warteten der Dinge, die da
kommen sollten. Zunächst kam der Ortsbürgermeister und allmählich
folgten einige Bürger des Ortes und beäugten uns von allen Seiten. Ein
junges Mädchen mit langen Zöpfen sagte zum Bürgermeister: „Die Mama hat
gesagt, ich soll eine Frau mit einem Kind holen, keinen Mann!" Dabei
sah sie gleich meine Mutter und den kleinen Bruder an. „Wollt ihr mit
mir gehen?" Meine ältere Schwester und ich wurden je in andere
Familien eingewiesen. Erika, so hieß das Mädchen, sagte jedoch, erst
geht ihr mal
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alle
vier mit zu meiner Mama. Diese stand an der Haustür und weinte still
vor sich hin. Sie bat uns liebevoll ins Haus und hatte auch schon für
uns den Tisch gedeckt. Es gab Nudeln mit gebräunter Butter und Obst
dazu. Nach dem Essen ging Erika mit meiner Schwester und mir zu unseren
Quartiersleuten, dort war man allerdings sehr unfreundlich zu uns.
Erika sagte daraufhin: „Dann geht ihr eben wieder mit zu uns nach
Hause". Schon wenige Stunden später hatte „Tante Frieda", so wollte die
Mama von uns genannt werden, ein anderes Quartier für uns beide
besorgt. Meine Schwester kam in eine Bauernfamilie und ich zu einer
jungen Witwe. Insgesamt hatten wir eine gute Zeit, von kleineren
Ereignissen abgesehen. Doch das war wohl das Verdienst meiner Mutter,
die uns beide immer angehalten hatte, wir müssen uns den Leuten
anpassen, nicht umgekehrt!
Wann
genau die Amerikaner einmarschierten, weiß ich nicht mehr, nur die
erste Begegnung mit einem „Ami" ist mir noch bestens in Erinnerung.
Ich hatte den Hausflur geputzt und wollte die Fußmatte am Zaun ausschlagen, da
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stand
ein Soldat der amerikanischen Armee urplötzlich mit einer
Maschinenpistole im Anschlag auf dem Hof. Ich erschrak zu Tode und
wollte schon laut zu schreien beginnen, da winkte mich der Soldat zu
sich, strich mir übers Haar, um mir anzudeuten, dass ich vor ihm keine
Angst zu haben brauchte. Dann schenkte er mir eine Tafel Schokolade,
für die damalige Zeit ein unschätzbares Gut. Ich nahm die Schokolade
und rannte damit gleich zu meiner Mutter.
Doch
da traf mich ein neuer Schreck, meine Mutter war von einer ganzen Horde
von Amerikanern umgeben. Mutter hatte immer gesagt, wenn „Die" kommen,
werde ich versuchen, mich mit ihnen zu verständigen, und jetzt war es
so weit. Sie hatte 1918 im Hotel Kreisch in Jünkerath während der
amerikanischen Besatzung Gelegenheit gehabt, ein wenig englisch zu
lernen, was ihr jetzt sehr zugute kam.
Sie
ging mit den Amerikanern als Dolmetscherin durch das Dorf und half den
verängstigten Leuten, ihre Furcht vor den Besatzungssoldaten zu
überwinden. Vier Häuser mussten für die Amerikaner geräumt werden.
Tante Friedas Haus blieb verschont. Die Vertriebenen kamen alle zu
ihr, am Abend waren wir zu 30 Personen im Haus, ohne die etwa zehn
Soldaten, die froh waren, sich mit jemandem verständigen zu können.
Einer der Soldaten fasste Erika an die langen Zöpfe, er konnte nicht
glauben, dass
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die echt sein sollten. Am 08. Mai 1945 war dann auch auf dem Westerwald der Krieg endlich zu Ende.
Die Rückkehr nach Jünkerath
Innerhalb
einer Woche hatte meine Mutter, zusammen mit fünfzehn anderen
Flüchtlingen aus Jünkerath geplant, die Heimkehr in die Eifel zu Fuß
anzutreten. Ausgerüstet mit einem alten Handwagen von Tante Friedas
Vater und einem ausgedienten Kinderwagen, ging es am 18. Mai 1945
zurück in die Heimat, trotz heftiger Proteste unserer Gastgeber. Tante
Frieda und Erika begleiteten uns ebenfalls zu Fuß bis zur etwa sechs
Kilometer entfernten Ortschaft Pracht, wo wir uns mit den anderen
Jünkerathern treffen sollten.
Nach
einem herzzerreißenden Abschied von den beiden fuhren wir - jetzt im
Konvoi -los. Tante Frieda und Erika hatten Verwandte in Pracht und die
wollten die beiden noch besuchen. Wir aber gerieten mit unserem
Handwagen bereits nach zwei Kilometern in ein tiefes Schlagloch in
der Straße, der Wagen kippte um und das ganze Gepäck kullerte in den
Straßengraben. Doch damit nicht genug, vom altersschwachen Handwagen
brach dabei ein Rad ab, an ein Weiterfahren war nicht zu denken. Die
anderen Jünke-rather mussten schweren Herzens ihre Fahrt allein
fortsetzen.
Während Mutter und Schwester versuchten, vom Gepäck zu retten was noch zu retten
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war,
bekam ich den Auftrag nach Pracht zurückzulaufen, um Tante Frieda noch
anzutreffen und zu informieren. Es gelang mir auch, und es wurde ein
Pferdefuhrwerk aufgetrieben, das uns „mit Kind und Kegel" nach
Bruchertsei-fen zurückbrachte. Aber Mutter gab keine Ruhe, sie wollte
unbedingt zurück nach Jünkerath! Tante Friedas Vater zimmerte aus dem
maroden vierrädrigen Handwagen in mühsamer Kleinarbeit eine stabile
zweirädrige Karre. Damit wurde ein zweiter Heimreiseversuch in Angriff
genommen. Nur das allernot-wendigste Gepäck wurde aufgeladen und eine
Woche später fuhren wir mutterseelenallein los.
In
Oberpleis gewährte uns eine Apothekerin Unterkunft für die Nacht, und
am anderen Tag erreichten wir gegen Mittag Niederdollendorf am Rhein.
Dort war die einzige notdürftig hergerichtete, für uns nutzbare Brücke
über den Rhein, doch leider durften Fahrzeuge unter 15 km/h nur morgens
zwischen fünf und sechs Uhr passieren. So musste hier eine Zwangspause
eingelegt werden. Zum Glück boten uns einige alte Baracken Unterkunft
für eine Nacht, allerdings erst, nachdem wir von amerikanischen
Soldaten „entlaust" worden waren. Früh am nächsten Tag konnten wir dann
als eine der ersten die Brücke ungehindert überqueren und unbeschadet
Bad Godesberg erreichen. Von dort ging es bei strömendem Regen weiter
Richtung Heimat. Vor Meckenheim
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machte
ein Schild darauf aufmerksam: „Kein Aufenthalt wegen Seuchengefahr".
Wir mussten weiterziehen. In Rheinbach bekamen wir dann schnell ein
Quartier und konnten uns der nassen Kleider entledigen. Am nächsten
Tag kamen wir zügig voran bis nach Tondorf, wo es bei einer
freundlichen Bauernfamilie echte Eifeler Bratkartoffeln mit Spiegelei
gab, die erste warme Mahlzeit seit vier Tagen. Von dort nahm uns ein
hilfsbereiter Lkw-Fahrer sicher mit bis nach Blankenheim, die einzigen
fünf Kilometer auf der
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gesamten
Strecke, die nicht auf Schusters Rappen zurückgelegt werden mussten!
Über Schmidtheim - Dahlem -Stadtkyll erreichten wir am Spätnachmittag
unser Ziel: Jünkerath, unsere geliebte Heimat - Ende einer Odyssee über
etwa 150 km Fußweg. Unsere Wohnung war zwar noch erhalten, doch
sämtliche Möbel und Schlafstätten völlig verdreckt und durchnässt, gut
eine Woche dauerten die Säuberungsaktionen, um alles wieder halbwegs
bewohnbar zu gestalten. Aber es war endlich wieder unser eigenes
zuhause!
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Am
13. August 1945 kam dann auch mein Bruder gesund aus dem Krieg nach
Hause, und bereits am 08. November 1945 war die Familie wieder
glücklich vereint, da mein Vater nach kurzer amerikanischer
Gefangenschaft ebenfalls wohlbehalten in Jünkerath eintraf. Die
Kontakte mit „Tante Friedas" Familie und Bruchertsei-fen blieben immer
erhalten, sie selbst ist seit vielen Jahren verstorben, aber mit
„Erikas „ Familie verbinden uns heute nach fast 60 Jahren noch echte
freundschaftliche Beziehungen.
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