Entnazifizierung
Erich Mertes, Neuwied
Das Thema ist schon fast ver­gessen und den jungen Leuten heute kaum noch bekannt. Aber damals, 1945, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, war es von existenzi-eller Bedeutung. Es schied die Menschen in Gut und Böse. Auch den Verfasser. Nach der bedingungslosen Kapitulation im Westen (7.5.45) und Osten (8.5.45) übten die Alliierten die oberste Gewalt im Deut­schen Reich aus, das sie in vier Besatzungszonen geteilt hatten: eine amerikanische, eine englische, eine französi­sche und eine russische Zone im Osten, allgemein Ostzone genannt.
Die alliierten Kontrollorgane übten einerseits die militäri­sche Besatzungshoheit in Deutschland aus, andererseits
verwalteten und kontrollier­ten sie die zivile Staatshoheit des untergegangenen Deut­schen Reiches in der Verant­wortung des Siegers für den Besiegten. Der Kontrollrat bestand aus den vier Zonen­oberbefehlshabern, die nach den Weisungen ihrer Heimat­regierungen handelten. „Es lag aus geopolitischen Gründen nicht im Interesse der Alliierten, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterdrücken. Vielmehr sollte ein zügiger Aufbau Deutschlands nach dem „Prinzip der vier D" erfolgen: 1. „Demokratisierung" nach demokratischen Prinzipien mit Einhaltung der Men­schenrechte, Recht auf Selbst­bestimmung, Rede-, Presse-, Religions- und Koalitionsfrei-
heit; schnelle Zulassung von politischen Parteien als Grundstein für ein parlamen­tarisches Mehrparteiensystem.
2. „Demilitarisierung": schnel­le Entwaffnung, um künftige Bedrohungen zu verhindern.
3. „Denazifizierung" (Entnazi­fizierung): Verbot der NSDAP und aller anderen Nazi-Verei­nigungen, Demokratisierung der Schulen, Bestrafung der Kriegsverbrecher durch die Alliierten, dauerhafte Elimi­nierung nazistischen Denkens.
4. „Dezentralisierung" von Politik und Wirtschaft, Zulas­sung von Parteien zunächst auf lokaler Ebene, keine staat­liche Industrie mehr. Demobi­lisierung und Dekartellisie­rung gehörten nicht dazu (uk)".
Uns interessiert hier nur das dritte „D", die De- oder besser Entnazifizierung. Durch Ge­setz des alliierten Kontrollra­tes wurde nach 1945 u.a. die politische Säuberung ange­ordnet. Sie bezweckte erstens die Bestrafung der National­sozialisten, Militaristen und der Wirtschaftskreise, die das nationalsozialistische Regime gefördert hatten und zweitens die Vernichtung aller natio­nalsozialistischen und milita­ristischen Organisationen und Ausschaltung der Anhänger des Nationalsozialismus aus dem politischen und wirt­schaftlichen Leben.
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„Klein Erich" im Landjahrjungenlager 1940
Die betroffenen Personen wurden in fünf Kategorien eingestuft: 1. Hauptschuldige,
2. Belastete (Aktivisten),
3. Minderbelastete, 4. Mitläu­fer und 5. Entlastete.
Als Strafen waren vorgese­hen: Freiheitsentzug, Vermö­genseinziehung, Berufsverbot, Amtsverlust, Pensionsverlust, Geldbuße, sowie Aberken­nung des passiven und akti­ven Wahlrechts. Letzteres musste auch der Verfasser unschuldig erfahren. Am 15.02.1941 trat ich eine kaufmännische Lehre bei der Firma Geisbüsch in Uess an. Mein Chef war nicht nur ein tüchtiger Kaufmann, sondern auch Ortsgruppenleiter der NSDAP. Unterm 15.11.1941 erhielt ich von der NS-Bann­führung der Hitler-Jugend in Mayen einen Brief, dass ich ab sofort mit der „K-Führung" der Hitlerjugend-Einheit Uess beauftragt sei und der Bann­führung in Mayen direkt unterstellt.
Ohne besonderes Verdienst oder bewusste Prüfung erhielt ich dann „Titel" wie „Gelän­dewart" und „Schießwart" als Abnahmeberechtigung für das HJ-Leistungsabzeichen und gar einen „Abnahmeberechti-gungs-Ausweis für die welt­anschauliche Schulung". Ich hatte als Kind keine Ahnung von Weltanschauung. Meine Anschauung der Welt bestand damals hauptsächlich in Kriegsmeldungen aus dem Radio. Mein Chef stellte jedes Mal den Volksempfänger auf besonders hohe Lautstärke, wenn wieder eine neue Sie­ges-Sondermeldung angekün­digt wurde. Das ging so bis
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Die Beauftragung mit der Hitlerjugend-Einheit Uess 1941, Film 209
Stalingrad 1942/1943. Neben dieser „Weltanschauung" des Krieges gab es für uns Kinder noch die Familie, den Freun­deskreis und vor allem den Glauben an Gott in der heili­gen katholischen Kirche. Eine philosophische Weltanschau­ung war uns völlig unbekannt. Warum ich damals zu diesen „Titeln" kam, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Viel­leicht weil ich 1940 als 14-jähriges Kind in ein Landjahr-jungenlager in Rodenberg a/ Deister bei Hannover für sie­ben bis acht Monate geschickt wurde? Ich weiß es nicht, dort machte ich ledig­lich den Schwimmschein I und II. Aber, wir waren kaser­niert untergebracht und erhielten eine gewisse vormi­litärische Ausbildung. Nur der Karabiner war durch den Spa­ten ersetzt. In einem späteren Ausbildungslager in Germeter
im Alter von 16 Jahren wurde allerdings schon mit scharfer Munition geschossen. Nun erhielt ich 1941 mit 15 Jahren diesen Auftrag für die HJ-Einheit Uess. - Was sollte ich machen?
Eine solche Frage tauchte da­mals gar nicht auf. Wir waren zum Gehorsam erzogen wor­den. Die Familie, die Schule und die katholische Kirche lehrten uns unisono: Gehor­samkeit. Wir sollten gehorsam sein gegenüber den Eltern, den Vorgesetzten und der Obrigkeit. Im katholischen Katechismus lernten wir u.a.: „Außer den Eltern sollen wir auch die Vorgesetzten ehren und ihnen gehorchen... Wir sind der geistlichen und der weltlichen Obrigkeit Ehrfurcht und Gehorsam schuldig, weil ihre Gewalt von Gott kommt. Gott verspricht den guten Kindern in diesem Leben sei-
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ahnungslos stellte ich mich in der Reihe an. Wie ein Schock traf es mich, als mir der Orts­bürgermeister sagte: „Erich, du warst HJ-Führer und darfst nicht wählen". Dieser Bauer hat sicher nie begriffen, was er da in einem jungen Men­schenherzen zerstörte. Ich habe über Jahrzehnte danach kein Wahllokal mehr betreten, bis endlich meine Frau Ursula mich in den 1970er Jahren eines Besseren belehrte. Am 04.12.1947 schrieb mir der Landeskommissar für die politische Säuberung in Rheinland-Pfalz, dass das po­litische Verfahren gegen mich eingestellt sei, weil ich nach dem Gesetz ... nicht betroffen sei. Kinderkram. Das Ganze ist vergleichbar, wie wenn in einem atheisti­schen Staat ein ehemaliger Messdiener sich wegen seiner religiösen Tätigkeit verant­worten müsste. Er könnte als Kind, als heranwachsender Teenager höchstens als Mit­läufer von den Gegnern der Religion beurteilt werden. So war es auch nach dem Zweiten Weltkrieg. „Nach Gründung der Bundes­republik Deutschland wurde die Entnazifizierung durch Abschlussgesetze auf Länder­ebene vereinheitlicht und ver­lor rasch an politischer Be­deutung" (Meyers, 7, 841).
Literatur:
- DER GROSSE HERDER, Freiburg 1953/1955
MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, Mannheim/Wien/Zürich, 1971 - 1981
- Katholischer Katechismus für die Diö­zese Trier, herausgegeben vom Bischöf­lichen General-Vikariat unter Bischof Franz Rudolf Bornewasser (1922 -1951), Trier, den 1. Januar 1925.
Das Urteil des Landeskommissars für die politische Säuberung in Rheinland-Pfalz 1947: Vom Gesetz nicht betroffen. Film 219
nen Schutz und Segen, im anderen Leben die ewige Seligkeit..."
Ich war gläubiger Messdiener, daher waren mir diese Lehrsätze heiliges Gebot! So gehorchte ich, ohne einen Gedanken an Überlegung zu verschwenden. Überlegung in Bezug auf Gehorsam war fremd. Das hatte uns nie­mand gelehrt. Ich gehorchte, denn Ungehorsam hätte nicht nur NS-Widerstand bedeutet, sondern auch meine Lehrstelle gekostet. Erst im Nachhinein weiß ich, dass ich dabei mehr
als 10% meiner Rente verloren hätte, denn wer aus meinen Jahrgängen nicht mindestens ein Jahr vor der Einberufung als Soldat eine versicherungs­pflichtige Beschäftigung nachweisen konnte, dem wur­de die Zeit als Soldat im Krieg und Kriegsgefangenschaft nicht als Rentenzeit angerech­net.
Als ich mit gerade 20 Jahren aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, es war 1946, da begannen die ersten Kommu­nalwahlen in Rheinland-Pfalz (15.09.46). Unbedarft und