Feindberührung
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Mathilde Gros, Eltville
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Wir
waren noch jung und gutgläubig dazu, als der Krieg ausbrach. Man sagte
uns, wir seien von Feinden umgeben -ja der »Feind« sei sogar schon im
eigenen Land - er höre mit. Wir müssten gegen alle Feinde kämpfen! Wir
sahen sie nicht leibhaftig, aber hörten von ihnen aus dem kleinen
braunen »Volksempfänger« und lasen täglich von ihren Untaten in der
Zeitung. Wir siegten! Wir spürten unwillkürlich den Feind am Mangel an
allem, und man sagte uns, dass er »Kartoffelkäfer« über die Äcker
ausschüttete. Der Feind kam näher. Meine beiden Brüder kämpften gegen
ihn. Einer fiel mit 19 Jahren. Jetzt begann auch ich, die unsichtbaren
Feinde zu hassen. Bombenangriff auf Gerol-stein. Tote, Verwundete
-meine Heimat weithin zerstört. Ich bekam Angst vor den Feinden. Noch
stand mein Elternhaus, aber wie lange noch?
Mit
den Nachbarn zusammen bauten wir »Unterstände«, zunächst am Hang nahe
der Dellstraße, dann weiter weg am Heiligenstein und schließlich Ende
Januar 1945 nahe der Flemingshöhe, etwa drei Kilometer außerhalb. Am
25. Februar: Artilleriefeuer auf Büdesheim, neun Kilometer Luftlinie
von unserem »Waldhaus« entfernt. Eine
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Woche später wurde Gerol-stein beschossen und am Dienstag, den 6. März besetzt. Stille um uns - war der Krieg jetzt zu Ende?
Donnerstag,
8. März: die ersten Sonnenstrahlen stehlen sich durch das kahle Geäst
über unserem Unterschlupf. Kaum haben meine Freundin Käthe und ich uns
den Schlaf aus den Augen gerieben, hören wir draußen fremde Stimmen.
Wer kennt unser Versteck? Plötzlich wird die behelfsmäßige Tür
aufgestoßen, wir erstarren - der »Feind« steht leibhaftig vor uns, die
Gewehre auf uns gerichtet. Es sind junge amerikanische Infanteristen,
die wohl versprengte deutsche Soldaten suchen. Ihre Sprache verstehen
wir nicht, bis einer von ihnen in gebrochenem Deutsch fragt: »Nix
deutsch Soldat hier?« Mein Vater findet als erster die Sprache wieder
und antwortet laut: »Nein«. Trotzdem durchwühlen sie unsere
Stockbetten und verschwinden so schnell wie sie gekommen sind. So
sahen sie also aus, unsere Feinde. Sie hatten uns nichts angetan und
nichts zerstört. Konnten wir es wagen in unsere Häuser
zurückzukehren, standen die überhaupt noch? War nun dieser furchtbar
lange Krieg für uns zu Ende? Wie würde es in unserem geliebten
Gerolstein
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aussehen, nachdem ihm so viele Wunden zugefügt worden waren?
Unsere
Eltern ließen uns an einem der nächsten Tage gehen. Wir sollten
nachschauen, was aus unseren Häusern geworden war. Unbekümmert, wie man
nur sein kann, wenn man jung ist, machten wir uns auf den Weg. Wir
liefen durch die »Moss« über den Heiligenstein Richtung Gee-serweg. Wir
freuten uns, als wir sahen, dass die Häuser noch standen. Wir liefen
den Berg hinab und kamen außer Atem am Geeserweg an. Plötzlich hörten
wir lautes Gejohle und Scheppern von der Hauptstraße her. Eine Gruppe
amerikanischer Soldaten zog in Richtung Pelm. Sie hatten sich mit
bunten Kleidern, Hüten, Zylindern und Bändern maskiert. Sie tanzten
wild und siegestrunken und hätten einem Karnevalszug alle Ehre
gemacht. Wir gingen auf mein Elternhaus zu. Die Haustür stand weit
offen. Lautes Stimmengewirr ließ uns den Atem stocken. Soldaten waren
in unserer Küche beim Zubereiten von Essen. Als sie uns sahen, riefen
einige »Hallo, Blondy!« Sie waren sehr freundlich und schenkten uns
Schokolade und Brot. Einer fragte uns, ob wir hier zu Hause seien. Er
erzählte, dass seine Großeltern Deutsche
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waren,
die nach Amerika ausgewandert seien. Bevor wir uns zurück zogen, sagte
er noch: »Wir hier machen nix kaputt«. Später erfuhren wir, dass es in
anderen Wohnungen, die nicht von Bomben zerstört worden waren,
weniger friedlich zuging. Viele waren sehr verschmutzt, es fehlten
persönliche Dinge, oder sie waren zerschlagen.
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Käthe
und ich machten uns schnell auf den Rückweg zu unseren Eltern in den
Wald und erzählten ihnen, was wir gesehen und erlebt hatten. Voller
Freude umarmten sie uns. Jetzt war der Krieg zu Ende und alles sollte
wieder gut werden.
Damals ahnten wir nicht, dass die allgemeine Kapitulation erst zwei Monate später fol-
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gen
sollte. Fast sechs Jahre Krieg, viele Millionen Tote, Soldaten und
Zivilisten, zerstörte Städte, unwiederbringlich verlorene
Kunstschätze!
In
den vergangenen 50 friedlichen Jahren hat sich mein »Feinbild«
gewandelt - vom Feind im eigenen Land hatte uns damals der Rundfunk
nicht erzählt.
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