Zwangsarbeiter Iwan
Gertrud Knobloch, Berg
Etwa siebzehn Jahre wird er alt gewesen sein, der Russen­junge Iwan, der meinen Eltern eines Tages gegen Ende des Krieges zur Arbeit zugewiesen wurde. Ohne Familienan-schluss, war ihnen dringend eingeschärft worden, obwohl
zu jener Zeit wegen des im­mer stärker werdenden Tohu­wabohus in der öffentlichen Organisation der Russe sogar bei uns schlafen durfte und nicht mehr täglich ins Lager musste. Schließlich war er ja auch kein Soldat gewesen,
sondern ganz einfach ver­schleppt worden aus seiner Heimat, der Ukraine. Nachdem wir uns zuerst mit Händen und Füßen mit ihm verständigen mussten, lernte er schnell, was er brauchte, um sich auch einigermaßen in
Deutsch mit uns verständigen zu können, wobei es ihm (und uns) auf Sprachfeinheiten nicht im Geringsten ankam, weshalb wir oft schrecklich lachen mussten. Dann lachte er mit, denn im Grunde war er ein freundlicher Kerl, der auch bald begriffen hatte, dass man ihm nicht übel woll­te und er nicht mehr zur Ar­beit herangezogen wurde, als jeder andere in der Familie. Nachdem ihn meine Eltern aus Angst vor Kontrollen zunächst mal in einem Raum allein essen ließen, wurde das bald fallengelassen, nachdem sich nichts „von oben" rührte. Der Russe saß mit uns am Tisch wie jeder andere aus der Familie und bekam von An­fang an das gleiche Essen, das ihm recht gut schmeckte, denn wir mussten uns immer
wieder über die Mengen wundern, die er verdrücken konnte. Schließlich war er ja erst siebzehn und noch im Wachsen!
Doch nicht nur am Tisch, fühlte er sich mit uns gleich­gestellt, nein, unbekümmert nannte er meine Eltern wie wir „Mama" und „Papa", was sie anfangs amüsierte und was sie ihm nicht ausredeten, so dass diese Bezeichnungen für Iwan ganz selbstverständ­lich waren. Mindestens ein Jahr war er bei uns. Dann rückte das Kriegsende heran. Schließlich rückten die Ame­rikaner näher und alle Fremd­arbeiter wurden eingesam­melt und weiter ins Innere von Deutschland verfrachtet, bevor die Front über uns hinwegging. So meinten wir jedenfalls. Vater hingegen
wunderte sich, dass in den nächsten Wochen das eine oder andere an Lebensmitteln und Schweinefutter ver­schwand. Da wir nicht Not litten, ging er seinen Beob­achtungen nicht weiter nach. Doch kaum waren die Ameri­kaner bei uns, war plötzlich auch Iwan wieder da: „Ich in Scheune oben liegen", meinte er, „nachts essen" und weiter: „Jetzt bei Mama und Papa bleiben!" Die nahmen ihn nun mit gemischten Gefühlen wieder auf, obwohl alle Fremdarbeiter aufgefordert wurden, sich zu sammeln. Auch unser armer Iwan konn­te nicht bleiben, die Militärs litten es nicht. Heulend nahm er Abschied. Nie wieder haben wir etwas von ihm ge­hört. Wo mag er wohl geblie­ben sein?