Der Heimweg
Peter Zilligen, Wittlich
Am Tag des Waffenstillstan­des, am 8. Mai 1945, „begann mein Heimweg östlich von Prag. Die Heimat hatte ich seit Frühjahr 1944 nicht mehr gesehen. Jetzt gab es nur noch einen Gedanken, nach Hause. Zusammen mit mehre­ren Soldaten führte der Fluchtweg bis kurz vor Pilsen. Tschechische Gefangenschaft unterbrach den Heimweg. Es ging zurück in östliche Rich­tung und in ein russisches Gefangenenlager im Sport­stadion in Prag unter freiem Himmel. Nach wenigen Tagen begann ein Hungermarsch für circa zwanzigtausend Solda­ten wieder in westliche Rich­tung über Teplitz-Schönau in die Nähe von Dresden. Der Weg Richtung Westen war mit dem intensiven Wunsch und der Hoffnung verbunden, bald nach Hause zu kommen. Ein Wunsch, der schnell begraben wurde, als der Ab­transport der Gefangenen
nach Russland begann. Durch freiwilliges Minensuchen in Ostdeutschland blieb ich wenigstens nahe der Heimat. Am 21. Dez. 1945 wurde ich zusammen mit weiteren 24 Kameraden in Frankfurt a.d. Oder aus der Gefangen­schaft entlassen. Ein russi­scher Offizier verabschiedete uns mit dem Wort: „Damoiy - nach Hause." Noch am gleichen Abend erreichten wir mit der Eisen­bahn in offenen Güterwag­gons Berlin. Eine derart erschreckende Trümmerstadt hatte ich bisher nicht gese­hen. Lange suchten wir in der am Abend fast menschenlee­ren Stadt nach einem Bahn­hof mit einem Zug nach Westdeutschland. An einer dürftig eingerichteten Fahr­kartenausgabe erhielten wir Fahrscheine mit dem Stem­pelaufdruck „Gestundet". Über Halle ging es am nächs­ten Tag bis nach Heiligen-
stadt. Es war die Endstation vor der damaligen britisch­russischen Demarkationslinie. Ortsansässige führten uns im abendlichen Dämmerlicht über die Grenze. Am 24.12. -Heiligabend -stand ich ver­lassen und verloren auf dem Bahnhof in Dortmund. Auf der Treppe zur Bahnunter­führung kam mir eine Rot-Kreuz Schwester entgegen. Sie blieb zaghaft neben mir stehen und fragte: „Kommen Sie aus Gefangenschaft?" Auf mein „ja" bat sie mich zu einer Weihnachtsfeier. Sie führte mich in einen klei­nen Raum neben dem Trep­penaufgang. Hier saßen sechs Männer, noch in Soldaten­uniform. In der Ecke ein geschmückter Tannenbaum. Nach einem gemeinsamen Weihnachtslied brachten Schwestern für jeden von uns eine Tasse Kaffee, Bohnen­kaffee, und ein großes Stück Streuselkuchen. Für uns ein
fürstliches Geschenk. Das ers­te Weihnachtsfest nach dem Krieg.
Am frühen Morgen des ersten Feiertages war ich auf dem Hauptbahnhof in Köln. Als ich den Zug in Richtung Re-magen besteigen wollte, rief der Zugschaffner: „Hallo, Soldat, wo wollen Sie hin?" „Über Remagen in die Eifel", war meine Antwort. „Das geht nicht", sagte der Schaff­ner, „Sie müssen in Zivil über die Grenze ins französische Gebiet, wenn sie nicht noch mal in Gefangenschaft wol­len." Also war der Krieg noch nicht ganz zu Ende. Zu Fuß
machte ich mich auf den Weg zu meiner Schwester nach Köln-Merheim. Ein er­schreckender Weg. Zwischen Trümmern ragte der Kölner Dom in die Höhe. Die stolze Deutzer Brücke lag im Rhein­wasser. Eine Behelfsbrücke führte über den Fluss. Die Straßenbahnschienen hatten ihren Zweck verloren. Unter­wegs beschäftigte die bange Frage, wohnt die Schwester noch in Merheim. Sie wohnte noch in ihrer alten Wohnung. Ich erhielt einen nicht ganz passenden Anzug meines Schwagers, die Jacke hätte ich fast als Mantel tragen
können. Es blieb nur ein kurzer Aufenthalt, es drängte nach Hause. Rhein - und Ahr aufwärts ging die Eisenbahn bis nach Ahrhütte. Von hier aus der letzte Fußmarsch über Dollendorf, Mirbach und von der Wiesbaumerhöhe kom­mend sah ich den Heimatort Lissendorf vor mir. Von Kriegseinwirkung war nichts zu sehen. Die Kyll überspann­te eine Ersatzbrücke, der da­hinter liegende Bahnhof war verwaist. Das letzte Stück bis zum nahen Elternhaus bin ich gelaufen, kindhaft glücklich. Jetzt, jetzt endlich war der Krieg zu Ende.