Ein Erlebnis von 1944
Mia Hermes-Hoffmann, Düsseldorf
Es war in Nohn der 1. Weih­nachtstag 1944. Es lag Schnee und war bitter kalt. Wir Kin­der spielten draußen im Schnee. Ein Nachbarskind kam von seiner Oma mit dem Weihnachtsgeschenk (eine kleine Mundharmonika) und ging nach Hause. Eine halbe Stunde später war es tot. Plötzlich kamen die Jabos und kreisten im Tiefflug über das Dorf. Kurze Zeit danach fielen die Bomben. Etliche Häuser an der Hauptstraße waren dem
Erdboden gleich. Es gab meh­rere Tote und Verletzte. Aus Angst vor weiteren Angriffen zogen wir mit Kind und Kegel per Handwagen, in dem das nötigste zum Anziehen und Essen war, in den Wald. Dort waren Luftschutzbunker er­richtet worden.
Unser Papa blieb zu Hause, re­parierte mit einigen Soldaten, die bei uns einquartiert waren, notdürftig das Dach unseres Hauses. Die zu Bruch gegan­genen Fensterscheiben wur-
den mit Pappe zugenagelt. In der Nähe von Nohn wurde die V1 und V2 abgeschossen, dar­um kreisten die Bomber stän­dig über unserem Dorf. Bald war es März 1945. Die Ameri­kaner waren bei uns ange­langt. Bodentruppen feuerten noch immer Geschosse ab. Ich war damals zwölf Jahre alt. Meine jüngste Schwester Thea war dreieinhalb Jahre. Sie spielte mit ihrer Kusine im Sand. Plötzlich ein fürchterli­ches Geschrei. Die beiden
Mädchen kamen brüllend ins Haus gerannt. Bei näherem Hinsehen entdeckte unsere Mutter, dass Thea am Kopf blutete. Am Hinterkopf hatte sie eine große Wunde. Mama lief gleich zur nebenan gele­genen Post, wo noch deutsche Soldaten stationiert waren. Glücklicherweise war dort auch ein Arzt. Er schaute mei­ne Schwester an und erkannte sogleich die Schwere der Ver­letzung. Ein Splitter hatte sie so am Kopf gestreift, dass das Gehirn frei lag. Der Arzt ver­sorgte sie an Ort und Stelle und ließ sie umgehend mit ei­nem Militärfahrzeug ins Kran­kenhaus nach Adenau brin­gen. Nun vergingen für uns lange Tage der Ungewissheit. Es gab kein Telefon und auch keine andere Möglichkeit, um eine Verbindung mit der Kli­nik herzustellen. Wir wussten noch nicht einmal, ob Thea überhaupt noch lebte. Wir weinten und beteten. Nach ei­nigen Tagen machten sich Mama und ich mit dem Fahr­rad auf den Weg von Nohn nach Adenau. Das waren sechzehn lange Kilometer. Vorbei an Amerikanern, sehr viele dunkelhäutige Männer (bis zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht mal, dass es Farbige
gibt), die uns gewaltige Angst machten, uns aber unbehelligt ließen. In Adenau waren Straßen und Häuser von dem Bomben zerstört. Wir nahmen kurzerhand das Fahrrad unter den Arm und gingen zum Krankenhaus. Voller Ungewis­sheit und Angst betraten wir das Zimmer, in dem Thea lie­gen sollte. Sie lachte, als sie uns sah, und wir weinten vor Freude. Kein Arzt weit und breit, nur eine Krankenschwe­ster. Mama stellte fest, dass das Kind noch denselben Ver­band um den Kopf hatte, den der Arzt ihr daheim angelegt hatte. Nicht einmal gewa­schen war sie, von einem fri­schen Hemd ganz zu schwei­gen. Das verkrustete Blut klebte ihr noch an Hals und Rücken. Mama hatte eine Dose Schokolade dabei. Unbe­schreiblich, wie sich das Kind über ein Stückchen Schokola­de gefreut hat. Der Rest wurde im Nachttisch deponiert. Doch davon hat sie nichts mehr bekommen, wie uns bei einem späteren Besuch eine Bett­nachbarin erzählte. Die Schwestern hätten sie gleich mitgenommen. Mama und ich fuhren schweren Herzens wie­der nach Hause. Nach einiger Zeit sollte Thea dann aus dem
Krankenhaus nach Hause ent­lassen werden. So machte sich Papa mit seinem Fahrrad auf den Weg nach Adenau. Es wurde später Nachmittag und Abend, aber kein Papa in Sicht. Bei Anbruch der Dun­kelheit kam er - allerdings oh­ne Kind und unverrichteter Dinge! Man hatte ihn kurz vor Hoffeld ohne Grund festge­halten und nicht passieren lassen. Am nächsten Tag dann der zweite Anlauf. Um alle Kontrollposten zu umfahren, nahm er den Weg durch Wald und Wiesen quer feldein. So gelangte er unbe­helligt nach Adenau. Dort packte er das Kind mit der spärlichen Bekleidung in ei­nen Korb am Fahrrad und machte sich auf den Weg Richtung Heimat. Nach den Erzählungen war es der 17. März (Namenstag Gertrud) und für Mama der schönste Namenstag in ihrem Leben. Fortan versorgte „Lina" (Dorf­krankenschwester) das Kind. Später haben wir erfahren, dass der Arzt in Nohn dem Kind das Leben gerettet hatte, so vorbildlich sei die Wunde versorgt gewesen. Eine zehn Zentimeter lange und breite Narbe ist zwar geblieben, aber kein bleibender Schaden.