Hoffnung und Trost im Zauberwort
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Wilma Herzog, Gerolstein
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Wir
Kinder wuchsen im Krieg auf, in seinen Trümmern, im unbeschreibbaren
Mangel danach. Unsere durchstandenen Todesängste, bei jeder Bombardierung, im herannahenden
Dröhnen der Bomberflotten, dem ohrenbetäubenden Aufheulen der Sirenen,
dem Herabpfeifen und markerschütternden Explodieren der Todesfracht...
Niemand
half uns Kindern je dies zu verarbeiten. Wir blieben damit allein.
Unsere verletzten Kinderseelen für immer auf Moll gestimmt. Die
Erwachsenen, sprachlos geworden, gefangen im eigenen Entsetzen, wenn
sie mit uns zitternd und verstaubt, heiser vom Beten, ungläubig
überlebt zu haben, langsam aus der Holzscheune neben dem Pütz traten,
auf dessen gestampftem Lehmboden, eng an den eisigen Burgfelsen
gepresst, sie mit uns gelegen hatten.
Nur
zögerlich kommen wir hervor, einander stützend oder an den Händen
haltend. Eine Nachbarin schreit unentwegt die Namen ihrer Kinder ins
Inferno, bis sie ohnmächtig zusammenbricht. Die Zerstörung riss ihr
Kratermaul so weit auf, dass darin ein Teil des Weges vor uns samt
Wirtschaftsamt verschwand, die ganze Häuserzeile links neben
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dem
Ratskeller. Wir atmen nur mit Anstrengung den verbrannten Staub.
Trümmerberge bis zur Kyll. Trümmer, wo das Hotel Heck stand. Trümmer
die Bergstraße hinunter, hinauf. Aus den Fensterhöhlen des Rathauses
züngeln uns riesige Flammenzungen entgegen, brennende Papierbündel im
Sog. Mitten im zerstörten Stadtkern Gerolsteins haben wir überlebt!
Neben
uns hören wir den Nachbarn, der mit seiner Frau gerade mit dem Leben
davongekommen ist, die rauchenden Trümmer seines Hauses hinter ihm,
in dem zwei Menschen starben und drei später noch schwerverletzt
geborgen werden können, zutiefst verzweifelt sagen: »Selbst wenn ich
mit einem einzigen Vaterunser unsere vier gefallenen Jungen zurückbringen könnte, in diese Hölle bete ich sie nicht hinein.«
Soldaten,
die mit uns in der Holzscheune auf dem Boden lagen, die uns rieten den
Mund beim Explodieren der Sprengbomben zu öffnen, damit uns die Lungen
nicht platzen, stehen neben uns und sagen: »Es ist in der Heimat viel
schlimmer als an der Front, da können wir uns noch gegen den Feind
schützen und wehren!«
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Wir
sind wie betäubt. Unsere Angehörigen? Wo sind sie? Verschüttet?
Verletzt? Tot? Ist uns irgend etwas geblieben, Vieh, Inventar, Nahrung?
Wasser? Wo ist noch Wasser? Wir funktionieren wie Marionetten, die
trotzdem trinken und essen, irgendwo eine Bleibe suchen müssen. Es ist
mitten im Winter. Heiligabend.
Meine
Tante kommt zu uns, vor die Scheune gelaufen, sie war unten im Flecken
verschüttet, grau von Mörtel und Staub, man erkennt sie kaum: Ihr vier
Monate altes Töchterchen hält sie blutüberströmt auf dem Arm. Sie ist
im Schock, glaubt das Kind sei schwerverletzt. Es schreit schrill und
ununterbrochen. Später erst entdecken wir, dass die junge Mutter durch
eine tiefe Wunde am Kopf stark blutete und das Blut auf das Kind
gelaufen war, über das sie sich schützend gebeugt hatte.
Dass
wir überlebten, grenzte an ein Wunder. Im Schmerz, in der Verzweiflung
und der großen Not danach und dann - besonders für uns Kinder -im
langsamen Offenbarwerden der in deutschem Namen begangenen Verbrechen
-schien es mir manchmal doch fast wie eine Strafe. Nie vergesse ich,
wie ich als
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Zehnjährige
im Frühjahr 1945 in unserem von mehreren Bombentrichtern zerstörten
Garten vor dem demolierten alten Apfelbaum stand und es kaum fassen
konnte: Er trieb Blüten. Makellos, zartfarben, mit Apfelblütenduft -
genau wie vorher. Ich hielt das Zweiglein in meiner Hand und weinte,
und weil niemand mich hören konnte, weinte ich laut all meine Trauer,
meine Verzweiflung, mein ganzes Elend heraus. Die Blüten waren Trost
und Hoffnung. Das Geschenk der Natur für eine wunde Kinderseele.
Hoffnung dieser Art gedieh vielerorts. Sie war still wie die
Apfelblüte, aber auch hörbar im Pfiff der Dampflok, als sie wieder
einige Strecken befuhr, sie erklang weit getragen von den Dächern im
Hammerschlag der Dachdecker.
Hoffnung,
das war der elektrische Strom, als er nach langem stundenweise wieder
floss und uns Licht gab. Hoffnung war Wasser, das aus dem Wasserhahn
kam und nicht mehr aus Pütz oder Kyll in Haus und Stall getragen werden
musste. Hoffnung war die erste Holzbrücke, die uns ermöglichte, wieder
über die Kyll zu gehen. Bald erklang die Orgel in Sankt Anna und wir
sangen von ihrer Stimme begleitet wieder die alten Kirchenlieder, mit
dem Gemisch von Trauer, um die in den Trümmern gebliebenen, den
Gefallenen und Vermissten, deren Gesichter uns noch so vertraut
waren. Aber auch Hoffnung klang mit, dass wir mit
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Gottes Hilfe an einer besseren friedlichen Zukunft arbeiten würden.
Hoffnung
war auch die Güte eines Menschen, der uns ein Stück Brot schenkte oder
ein Paar brauchbare Schuhe mit einem guten Wort. Und endlich öffnete
sich wieder die Schule für uns Kinder, wenn auch nur behelfsmäßig in
Gaststätten und Baracken, ohne Schulbücher, ohne Hefte.
Es
gab weder Lehrmittel noch Landkarten von unserem Land, das verkleinert
und unter Besatzungsmächte aufgeteilt war. Es gab Mädchen in meiner
Klasse, die ohnmächtig vor Hunger zusammenbrachen, weil sie ihren
noch hungrig gebliebenen kleineren Geschwistern morgens ihre
Brotzuteilung zugesteckt hatten. Es gab andere Kinder, die zwei Brote
mitbrachten, um sie zu teilen. Trotz allem Mangel hörten wir in unseren
behelfsmäßigen Schulräumen, die durch mitgebrachte Holzstücke erwärmt
waren, die Stimme der Hoffnung. Es war die unserer Klassenlehrerin
Agnes Berlingen. Sie brachte ihre alten Gedichtbände mit in die Schule
und ließ uns am Reichtum teilnehmen, den uns die deutschen Dichter
hinterlassen haben. Sie begeisterte uns für die Sprache der Lyriker.
Ich habe heute noch die alten Rechnungen des Gerolsteiner Sprudel,
gefunden dort, wo der Wind sie verweht hatte, über den Trümmerbergen
geschmolzener grüner Glasflaschen, auf deren freier Rückseite ich
nunmehr meine
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Hausaufgaben machte. Auf einer von ihnen steht »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« von der Tafel abgeschrieben.
Wie
sympathisch war uns der weise alte Herr aus dem Havelland, der in
Anbetracht seiner geizigen Erben, eine Birne mit ins Grab nahm. Wir
stellten uns einen solchen Kinderfreund - mit einem herrlichen Birnbaum
- auf unserem Schulweg vor. Wir nahmen begierig die Werte in uns auf,
die unsere Lehrerin uns so hervorragend zu vermitteln wusste. Mit
großer Sorgfalt setzten wir uns mit den Personen und Geschehnissen
dieser Gedichte auseinander. Sie wurden zu Themen unserer Aufsätze.
Die Darstellung unverbrüchlicher Freundestreue machte großen Eindruck
auf uns in Schillers Gedicht »Die Bürgschaft«. Das war ein Ideal, dem
nachzueifern man sich wenigstens im Kleinen vornahm.
Die
Pflichterfüllung, die Adal-bert von Chamisso in seinem Gedicht »Die
alte Waschfrau« festgehalten hatte, kam uns doch irgendwie bekannt vor.
Denn fast jeder Schüler kannte einen oder gar mehrere Menschen, ob
Vater oder Mutter, Lehrer, Feuerwehrmann, Dechant oder andere, die im
Krieg, unter großer eigener Gefahr auch für andere Menschen da waren.
Uns
bedeutete G. Schwabs »Das Gewitter« mehr als nur das beschriebene
Unheil einer Naturkatastrophe. Wir wuss-ten den letzten Satz noch
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ganz anders zu deuten, der heißt:
»Urahne, Großmutter, Mutter
und Kind
vom Strahl miteinander
getroffen sind,
vier Leben endet ein Schlag -
und morgen ist`s Feiertag.«
Heiligabend
1944 kam uns vor Augen und die 21 anderen schweren Luftangriffe auf
unseren Ort mit Spreng-, Phosphor- und Brandbombenteppichen, mit
anschließendem Jabobeschuss der Helfer, die Verschüttete bergen
wollten. Uns kam aber auch der Atomblitz in Erinnerung, der Tausende
Menschen verbrannte in Hiroshima und Nagasaki. Kurz nach dieser
Zeitenwende kam der Bischof von Hiroshima. Von der Kanzel in St. Anna
schilderte er uns Kindern in deutscher Sprache die unsägliche
Zerstörung und die Leiden der Menschen. Er kam mit der Hoffnung in
unser zerstörtes Gerolstein und bat nicht vergebens um Hilfe für die
Überlebenden, wovon Tausenden ein langes qualvolles Siechtum durch
die atomare Verstrahlung bevorstand. Welch ein Balsam für unsere
Kinderseelen, welche Wohltat war da die Begegnung mit Joseph von
Eichendorff s »Sehnsucht« mit der wunderbaren Beschreibung einer
herrlichen Sommernacht:
»Es schienen so golden die
Sterne,
am Fenster ich einsam stand
und hörte aus weiter Ferne
ein Posthorn im stillen Land«
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Ein
Himmel ohne Gedröhne von Bomberformationen. Der Mensch am Fenster
darf sich unbedroht seiner Sehnsucht hingeben. Er muss nicht bebend im
Schweiß der Todesangst, irgendwo verkrochen in einer Ecke im
Kartoffelkeller um sein Leben bangen. Von Eichendorff schreibt »Stilles
Land«. Ein Zauberwort, denn er beschreibt ein Land im Frieden.
Welch wundervolle Vorstellung! Jeder sprach das aus.
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Danach hatten wir alle
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Agnes Berlingen, Klassenlehrerin
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Sehnsucht.
Unser Land sollte still sein, wollte so bleiben, ohne irgendwelche
Waffen. Wir hatten ja gelernt! Welche Hoffnung! Welcher Trost, welch
gute Zukunft! Ich habe dieses Gedicht auswendig gelernt. Wie so viele
andere. Wir haben die Gedichte uns zu eigen gemacht, sie übernommen
mit dem geschilderten Bild aus der guten Zeit, bevor das alles geschah, woran wir doch noch so litten. Der Dichter hat so Recht, wenn er schreibt:
»Schläft
ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt
hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort!«
Wir
Kinder waren tief innen kriegsverletzt, mussten von innen her heilen,
mit Hilfe der richtigen Medizin. Im großen Mangel jener Zeit verdankten
wir Schüler die Teilhabe am Reichtum geistiger Schätze,
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der
»Zauberworte« deutscher Dichter, unserer Lehrerin, Agnes Berlingen,
aber auch unserem Rektor Hans Zimmermann, der sie uns in Liedform
übermittelte. Beiden habe ich danken können in Briefen, die über den
großen Teich gingen. Heute möchte ich es hiermit öffentlich
wiederholen. Beide bleiben für mich lebenslang untrennbar mit den
Gedichten und Liedern verbunden, die sie uns damals schenkten. Agnes
Berlingen, versunken in der inneren Vorstellung vom Bodensee, während
sie »Der See« von Annette von Droste-Hülshoff rezitiert, Herr
Zimmermann, seine Wange an der Geige beim Lied:
»Hab'
oft im Kreise der Lieben, im duftigen Grase geruht und mir ein Liedlein
gesungen, und mir ein Liedlein gesungen, und alles, alles war wieder gut."
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