Mehr Glück als Verstand!
Amanda Haagen, Salm
»Tüchtig, tüchtig, diese Kerle würden gute Soldaten abge­ben, sollte unser liebes deut­sches Vaterland noch einmal einen Krieg anzetteln!«
So reagierte unser Vater, als er von einem unerhörten Lausbubenstreich seiner drei Sohne erfuhr. Mama empörte sich: »Mal den Teufel nicht an
die Wand, ich möchte so schnell keinen Krieg mehr erleben. Ich möchte kein Kanonenfutter auf die Welt gebracht haben.«
Meine Brüder waren die Jahr­gänge 1912, 1916 und 1918. Als der zweite Weltkrieg aus­brach, zogen sich die drei Bu­ben keine Kinderschuhe mehr an. Prächtige Soldatenstiefel und schneidige Uniformen bekamen sie nun verpasst. Stolz und erhaben marschier­ten sie einher.
Es war im Januar 1945. Hab und Gut büßten wir ein. Es war der schlimmste Flieger­angriff, den wir erlebten. So packten wir die letzten paar Überbleibsel in unsere Koffer und zogen aufs Land. Bei ei­nem befreundeten Gutsbesit­zer im Frankenland fanden wir ein wohlwollendes Dach über dem Kopf. Selbstver­ständlich halfen wir fleißig mit bei allem was es zu tun gab. Nach und nach konnte die halbe Verwandtschaft dort Unterschlupf suchen: Bruder als Kriegsbeschädigter, Schwägerin mit den zwei kleinen Kindern, einschließ­lich unserer Großtante bela­gerten wir das herrliche Gutshaus. Platz war genug vorhanden.
Es war Anfang oder Mitte April! Mitten in der Nacht fuhr ein deutsches Wehr­machtsauto ohne Beleuch­tung zum Gutshof herein. Sämtliche Hunde bellten Alarm, sogar das Gänsepär­chen schrie gottjämmerlich! Das ganze Haus war im Nu hellwach. Ganz leise klopfte jemand ans Tor und flüsterte durchs Schlüsselloch »Ich bin es der Georg, mach doch bitte auf.«
Mit zwei Soldaten stand mein Bruder Georg in seiner Offi­ziersuniform vor uns »Ich
komme aus der Eifel, aus Bit­burg. Ich bin abgehauen. Wir fuhren die ganze Nacht durch, und immer die Ameri­kaner im Rücken«, erzählte er. Der Gutsbesitzer riegelte sofort das große Scheunentor auf, um das Auto unterm Stroh zu verstecken. Unter diesen Voraussetzungen war das ein tödliches Risiko, fast 500 Kilometer zurückzulegen, ohne Gefahr zu laufen, von der SS entdeckt zu werden, oder den Amerikanern in die Hände zu fallen Vater nannte das jetzt nicht mehr: tüchtig, tüchtig. »Mehr Glück als Ver­stand« sagte er nun. Mit sei­nen zwei Burschen, wie Georg die beiden Soldaten nannte, vereinbarte er: »Ich bin von heute an nicht mehr euer Vorgesetzter, ich kenne euch nicht, zieht die Uniform aus, versteckt euch im Dorf. Vielleicht findet ihr verständ­nisvolle Bauern, die froh sind, Arbeitskräfte zu haben.« Bruder Georg zog allerdings die Uniform nicht aus. Es konnte nicht mehr lange dau­ern, bis der Amerikaner kam. Aus Angst räumten wir alles, was uns als Nazis identifiziert hätte, aus dem Haus. Hitlers »Mein Kampf« landete in der Jauchegrube, ebenso Fotos aus der Reichsparteitagszeit in Nürnberg, ein Ölgemälde »Unser Führer«, ein ganzes Bilderbuch von der Hochzeit meiner Schwester, die 1940 einen hochdekorierten SA-Mann geheiratet hatte, sämtliche Waffen, die im Haus waren, auch die von den drei Deserteuren - alles schluckte die Jauchegrube. Als dann tatsächlich eines
Tages ein Ami-Jeep oben am Dorfeingang Halt machte, ging mein Bruder in voller Uniform, mit erhobenen Hän­den zu den amerikanischen Soldaten. In englisch erklärte er: »Ich habe meine Truppe verloren. Da ich über die Feldpost erfuhr, wo sich mei­ne bombengeschädigte Fami­lie aufhält, bin ich hierher ge­kommen, um mich von mei­ner Familie zu verabschieden, bevor ich in Gefangenschaft gerate.« Die Amerikaner lächelten: »Okay, wir warten vor der Haustüre, lassen Sie sich Zeit, wir haben vollstes Verständnis.«
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen lebendi­gen »Schwarzen«, der Gewehr bei Fuß vor dem Tor stand. Die anderen saßen bereits wieder im Jeep, in dem nach ein paar Minuten dann auch Bruder Georg Platz nahm. Schnell hatte es sich herum­gesprochen. Das halbe Dorf war auf den Beinen, vor allem Kinder, die bis zum Dorfaus­gang den Jeep verfolgten, nicht nur, weil man wie bei einem Karnevalszug mit Süßigkeiten beworfen wurde, sondern weil es interessant war, einen echten amerikani­schen Wehrmachts-Wagen zu sehen!
Zwei Jahre arbeitete mein Bruder Georg in Paris als Ge­fangener in einem Kaufhaus. Als er zurückkam, schleppte er zwei vollgepackte Koffer mit Textilien hinter sich her.
Es waren wertvolle Sachen, die so kurze Zeit nach dem Krieg noch immer sehr be­gehrenswert waren.