Jacques und Émile
Hildegard Dümmer, Hillesheim
Zum Jahreswechsel flatterte mir, wie schon seit vielen Jahren, ein Brief von Claudia ins Haus, in dem sie mir, mei­ner Familie und einigen Be­wohnern meines Heimatortes Berlingen »une bonne année...« wünschte, die übli­chen Neujahrsgrüße, die man Freunden übermittelt. Dieser Brief kam aus Frankreich, aber Claudia ist keine Brief­freundin aus Schulzeiten. Ich lernte sie erst durch ihren Mann Émile kennen. Dieser arbeitete während des zweiten Weltkrieges als französischer Kriegsgefangener auf dem Bauernhof meines Großvaters väterlicherseits und gehörte für uns alle mit zur Familie. Émile war froh, den Kriegs­wirren entronnen zu sein und in unserem Dorf hier relativ sicher leben zu können. Seine positiven Erinnerungen an diesen unfreiwilligen Aufent­halt bei uns kamen jedoch sowohl in seinen zahlreichen Briefen und Karten zum Aus­druck, als auch in den häufi­gen Besuchen und Ferienauf­enthalten mit seiner Frau Claudia. Wir korrespondieren und telefonieren noch immer regelmäßig, obwohl Émile schon im Februar 1997 im Al­ter von 78 Jahren verstorben ist.
Auch Jacques war ein ehema­liger französischer Kriegs­gefangener, der bei meinen
Großeltern mütterlicherseits beschäftigt war. Zu ihm hat­ten wir Kinder ein besonders enges Verhältnis, denn wir sahen ihn täglich, wenn er mit dem Pferdegespann an unserem Haus vorbei aufs Feld fuhr. Da die drei Söhne meines Großvaters eingezo­gen waren, er selbst aber alt und gebrechlich war, über­nahm Jacques die Arbeiten auf dem Bauernhof, die er bestens erledigte. Er arbeitete und aß mit uns, gehörte also mit zur Familie. Wir Kinder hielten ihn für unseren Onkel, redeten ihn mit seinem Vor­namen an und besuchten ihn häufig in der kleinen Schmie­de neben dem Pferdestall, in der er sich während seiner Freizeit gerne aufhielt. Von Beruf Landmaschinenmecha­niker, konnte er sich hier sei­nen Fähigkeiten entsprechend betätigen. So schmiedete er Ringe aus Franc-Münzen, reparierte das Pferdegeschirr und andere landwirtschaftli­che Geräte, oder stellte Spiel­zeug her, damals für uns Kinder ein kostbares Gut, das man zu dieser Zeit kaum kau­fen konnte. Ganz besonders gerne erinnere ich mich an das schöne Puppenhaus, lie­bevoll ausgestattet mit allen Details einer Wohnung -nicht einmal die Gardinen fehlten -, das an Weihnachten zusammen mit anderen Spiel-
sachen für mich und meine Geschwister unter dem Christbaum stand. Die Kriegsgefangenen lebten und arbeiteten tagsüber auf den Bauernhöfen, wurden aber nach dem Abendessen zum Gemeindefeuerwehrsaal geführt, wo sie die Nacht verbrachten. Später durften sie auf den jeweiligen Höfen übernachten. Eigentlich war es ihnen nicht gestattet, die Mahlzeiten gemeinsam mit ihren Arbeitgebern einzuneh­men, aber die resoluten Bau­ersfrauen ließen sich da keine Vorschriften machen. Ich erinnere mich noch genau an den Mittag, als ein Kontrol­leur dies beanstandete, meine Großmutter diesem jedoch energisch entgegen trat mit den Worten; »Wer mit uns arbeitet, soll auch mit uns essen.«
Als im März 1945 die Ameri­kaner einrückten, freuten sich die Gefangenen auf ihre Be­freiung und auf ihre baldige Rückkehr, denn das Heimweh war mittlerweile unerträglich geworden. Für Jacques jedoch war die erste Begegnung mit den Befreiern weniger erfreu­lich. Es war um die Mittags­zeit, als er mit dem Pferde­gespann vom Feld nach Hau­se kam. Bekleidet mit einer alten Uniformhose und einem verblichenen grünlichen Hemd, wurde er von einigen
amerikanischen Besatzungs­soldaten angehalten und gezwungen, seine Hose aus­zuziehen. So kam er dann in Unterhosen fluchend und schimpfend ins Dorf. Ähnlich erging es auch Émile. Bei der Ankunft der Amerika­ner fühlte auch er sich den Siegermächten zugehörig und postierte sich uniformiert auf dem Hof meiner Großeltern. Die Amerikaner aber traktier­ten ihn mit Gewehrkolben und stießen ihn zurück ins Haus. Sie hatten wahrschein-
lich die beiden Franzosen für Partisanen gehalten. Seitdem blieben gewisse Ressenti­ments den Befreiern gegenü­ber, sowohl bei uns als auch bei den gedemütigten Franzo­sen, die dagegen in ihren Briefen wiederholt das faire Verhalten der Deutschen gegenüber den französischen Kriegsgefangenen betonten. So schreibt Émile in seinem Brief vom 08.01.1996 wört­lich auf französisch: »Während des Krieges wart ihr den französischen Gefan-
genen gegenüber sehr höflich und wir sind sicher, das sich dies noch immer mehr stei­gert.«
Ihre Verbundenheit mit unse­ren Familien und den Dorfbe­wohnern dauert bis heute an. Aus Feinden wurden Freunde. So kann ein grausamer Krieg auch hin wieder etwas ganz anderes hervorbringen, als es die Kriegstreiber eigentlich beabsichtigt hatten; denn das Volk hasst den Krieg, die Menschen wollen den Frieden.