Eine Zugfahrt nach Ende des Krieges
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Tamara Retterath, Lirstal
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„Der
Zug Richtung Köln über Remagen, Bad Godesberg, Bonn erhält soeben
Einfahrt." tönt es aus dem Lautsprecher. Sie steht mit einer großen
Tasche am Bahnsteig, hält den Fahrschein nach Bad Godesberg in der
Hand bereit. Der Zug verlangsamt seine Geschwindigkeit und kommt zum
Stehen. Während es über Lautsprecher über den Bahnsteig „Bitte
einsteigen!" hallt, strömen die Menschen bereits aus dem Zug, andere
wiederum konzentrieren sich auf das Einsteigen, eilen in Richtung der
am nächsten liegenden Zugtür und stellen sich in Warteposition. „Darf
ich Ihnen behilflich sein?" fragt einer der dort stehenden Herren und
hebt ihr bereits ihre Tasche in den Zug. „Danke, sehr freundlich von
Ihnen." antwortet sie, als sie in den Wagon eintritt. Gleich im
nächsten Abteil nimmt sie Platz. Ein Pfiff und der Zug setzt sich in
Bewegung und tuckert gemächlich den Rhein entlang.
Ihr
Blick streift die Tasche, sie lächelt vor sich hin. Ihre Verwandten in
Bad Godesberg werden sich über die Butter, die sie mitbringen wird sehr
freuen. Auch über den Schinken, den sie heute früh noch in ihren Rock
eingenäht hat. Die Butter hat sie vorausahnend in einem Henkeltopf
versteckt, über den sie einen
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Pudding
verteilt hat. Ihre Gedanken schweifen ab. Der Krieg hat alles
verändert. Seit Ende des Krieges ist die Lebensmittelbeschaffung sogar
noch schwieriger geworden als während des Krieges, denn nun ist es zu
einer Inflation gekommen. Fleisch, Speck oder andere
Grundnahrungsmittel sind die höchsten Werte, weil man Geld nicht essen
kann. Ihr Ehemann befindet sich noch in Russland in
Kriegsgefangenschaft. Sie seufzt. Für sich und die Kinder muss sie
alleine sorgen. Aber auf dem Land ist das alles trotz allem noch
leichter als in der Stadt, denn auf einem Bauernhof hat man
wenigstens genug an Grundnahrungsmitteln zum Überleben. Wenn die
Franzosen den Leuten nicht alles wegnehmen würden! Sie waren völlig
überrumpelt gewesen, als hochrangige Offiziere plötzlich im Flur ihres
Hauses gestanden hatten, „Hausdurchsuchung" brüllten und vom Speicher
bis zum Keller alles durchsuchten, um Lebensmittel zu beschlagnahmen.
Ein Mann aus dem Nachbardorf musste um Essen betteln gehen, seit die
Besatzungsmächte bei ihm beschlagnahmt hatten. Er hatte sich kein
Versteck für ein paar Nahrungsmittel auf dem Feld gebuddelt, wie alle
anderen, um nicht zu verhungern.
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Gegenüber
der Bevölkerung hatten sich die Amis, die vorher die Eifel besetzt
hatten, freundlicher verhalten. Sie gaben den Kindern Schokolade,
Kaugummis und Fruchtdrops. Sie selbst hatte den Amis eine Flasche
Schnaps, den sie schwarz gebrannt hatte, und ein selbstgebackenes
Roggenbrot, dass diese nicht kannten, gegeben, und dafür echten
Bohnenkaffee bekommen. Nicht diesen Muckefuck, den sie sonst als
Ersatz getrunken hatten. Es waren harte Zeiten im Krieg gewesen. Wenn
sie daran denkt, wie oft sie den Keller aufsuchen musste, wenn die
Sirenen aufheulten. Und sie hatten Glück gehabt: Das Dorf, in dem sie
mit ihren zwei Kindern lebte, lag so versteckt im Tal und war so
klein, dass es die Flugzeuge bei Bombenangriffen immer verfehlten oder
verpassten. Ihr Häuschen war jedenfalls nicht zerstört worden, so dass
sie vielen Menschen aus der nahen Kleinstadt darin und auch im
Heustall aufnehmen und ihnen Unterschlupf gewähren konnte, die ihr
Heim mit Hab und Gut bei den Bombenangriffen verloren hatten. Viele
hatten nichts zu essen und bettelten von Tür zu Tür um ein Stück Brot.
Sie hatte den Leuten immer etwas zu Essen gegeben, aber alle Leute mit
so viel Nahrungsmitteln zu beschen-
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ken,
dass sie alleine davon satt wurden, das konnte auch sie nicht. Sie
musste ja auch ihre Kinder versorgen. Ein junger Mann hatte eines Tages
mit einen Schäferhund vor ihrer Tür gestanden und sie nur um ein
Zuhause für den Hund gebeten. Er konnte den Hund nicht mehr
durchfüttern, weil er selbst für sich zu wenig zu essen hatte. Er
hatte Tränen in den Augen, als er seinen besten Freund, den Hund,
zurücklassen musste. So waren sie zu einem Wachhund gekommen. Sie und
die Kinder hatten Ar-co, so hieß der Schäferhund mit dem abgeknickten
Ohr, sehr lieb gewonnen. Doch lange war ihnen dieses Glück auch nicht
beschieden, denn ein französischer Besatzungssoldat hatte den Hund,
als sie mit ihm auf dem Feld war, ganz plötzlich und ohne einen Grund
einfach so erschossen. „Guten Tag! Die Fahrkarten bitte!" Der
Fahrkartenkontrolleur holt sie aus ihren Gedanken. Sie gibt ihm das
gewünschte Ticket, und während er es entwertet, wünscht er ihr „Eine
ange-
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nehme
Weiterreise!" Wieder schaut sie gedankenverloren aus dem Fenster,
während der Zug weiter vor sich hin tuckert. Auch nach dem Krieg war
das Leben hart. Das bekamen sie besonders zu spüren, als die
Besatzungsmächte ein Pferd aus dem Dorf forderten und jemand
bestimmte, dass es ihre Familie treffen würde, die ihr Arbeitspferd
abgeben muss-ten. Da war die Forderung der Besatzungsmacht, ein Fahrrad
aus der Gemeinde abzugeben, schon einfacher zu erfüllen gewesen. Die
Dorfbevölkerung hatte sich zusammengetan und jede Familie hatte ein
Fahrradteil abgegeben; dann wurde alles zu einem Fahrrad
zusammengebaut. Somit hatten sie ein Velo, dass sie der Besatzung
abgeben konnten. Jäh wird sie aus ihren Gedanken gerissen. Der Zug hat
an einem Bahnhof Halt gemacht. Militär steigt in den Waggon.
„Kontrolle!" schreit ein Soldat der Besatzungsmacht. „Was führen Sie
mit sich?" fragt er einen Mann auf der anderen Seite des Zugabteils.
„Nichts" hört sie leise. „Öffnen Sie bit-
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te
die Tasche!" kommt es fordernd. „Was haben wir denn hier?" fragt er
scharf, dann „Konfisziert!" „Aber ich habe acht hungrige Kinder zu
ernähren" wendet der Mann ein, doch die Soldaten sind schon weiter bei
dem nächsten. Ihr wird es jetzt ganz heiß. Je näher das Militär kommt,
um so mehr schwitzt sie. Sie nimmt unauffällig tief Luft. Es muss
einfach gut gehen. Ihre Verwandten in der Stadt brauchen das Essen. In
Bad Godesberg müssen die Frauen beim Wiederaufbau der Stadt
Schwerstarbeit leisten. Es kommt jetzt nur auf sie an! „Was führen Sie
mit sich in der Tasche?" fragt der Kontrolleur. Jetzt hat er sie wohl
erwischt, denkt sie, und ihr wird mulmig, „Da" sagt sie nur scheinbar
selbstsicher und öffnet daraufhin ihre Tasche, nimmt den Henkeltopf
heraus, „is änne joode wackelige Pudding drin!" Dann schnappt sie sich
einen Löffel und fängt genüsslich an, vor den Augen des Militärs ihren
Pudding zu verspeisen. Die Soldaten wenden sich ab und gehen zum
nächsten Wagen.
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