Der Himmel schließt um 12

Monika Engelhaupt, Gerolstein-Müllenborn

Der Himmel schließt um 12, also bleibt mir noch eine Menge Zeit die Welt zu ändern!

Es war ein Tag wie jeder andere, der Novembermorgen begrüßte mich grau in grau mit Nieselregen, und am liebsten hätte ich mich wieder herumgedreht, die Augen geschlossen, in der Hoffnung, dass mich später die Sonne aus meinem warmen Bett vertreiben würde. Mittlerweile war es schon halb zehn. Der Kaffee, den mein Mann mir bereitet hatte, war kalt und mein Arbeitspensum, welches ich mir für heute vorgenommen hatte, war eh nicht mehr zu schaffen. Missvergnügt verließ ich meine kuschelige Oase, trottete ins Bad und ließ mir danach den aufgewärmten Kaffee schmecken. Die Zeitung hatte, wie fast jeden Tag, nur Horrornachrichten, die mich auch nicht gerade aufheiterten. Mürrisch verrichtete ich meine Hausarbeit, bei der mich auch nicht die flotte Musik aus dem Radio aus meiner trüben Stimmung reißen konnte. Um die Mittagszeit mummelte ich mich in meinen dicken Mantel und verließ mein trautes Heim, um einkaufen zu gehen. Komisch, dachte ich, Männer finden einkaufen interessant, zumindest die, die ich kenne, doch tun sie es meistens nicht, noch nicht mal am Samstag.

Heute allerdings sollte alles anders sein. Der Parkplatz vor dem Supermarkt war wie immer voll, doch ich hatte Glück. Gleich neben den Behindertenplätzen war eine Lücke. Ich schnappte mir einen Einkaufswagen und machte mich auf den Weg. Vor der Tür, auf dem kalten, nassen Boden saß ein Obdachloser. Er bettelte stumm um Geld, und mir krampfte sich der Magen zusammen, vor Mitleid und auch vor Zorn. Ich nahm mir vor, nach meinen Besorgungen, etwas Kleingeld in meine Manteltasche zu stecken, denn mein Misstrauen war zu groß, jetzt meinen Geldbeutel zu öffnen und ihn womöglich aus der Hand gerissen zu bekommen, denn finster und unheimlich sah der noch nicht so alte Mann aus. Hier drinnen im Markt war es angenehm warm, ich ließ mich von der einschmeichelnden Musik berieseln und mich animieren, Dinge in den Wagen zu legen, die ich eigentlich gar nicht kaufen wollte, und weil ich nun auch noch hungrig wurde, füllte sich der Einkaufswagen mehr und mehr. So oft hatte ich mir vorgenommen, vor dem Wegfahren eine Kleinigkeit zu essen, und wieder einmal hatte ich es vergessen. Ich ging zum Bäckerstand; erst einmal ein Teilchen auf die Faust für meinen Heißhunger und dann dasbenötigte Brot. Als ich mein Kleingeld abzählte, fiel mir der Obdachlose wieder ein, und ich kaufte noch einige Teilchen extra. Vor der Tür standen ein paar zänkische Weiber um den armen Mann herum, sie beschimpften ihn und schreckten auch vor einigen Fußtritten nicht zurück. Langsam bahnte ich mir den Weg bis zu ihm hin. Er schaute beschämt zu Boden. Als ich ihn ansprach, wurde es rings um mich her mucksmäuschenstill. „Würden Sie mir bitte mit dem Einkauf helfen?" hörte ich mich sagen und wunderte mich über mich selbst. Erstaunt schaute er mich an, nickte kurz, stand auf, griff sich meinen Einkaufswagen und trottete los und dann immer schneller, Richtung Auto. Rund um uns her wurde getuschelt, aber wir waren schon zu weit weg, um die Worte zu verstehen. Gut so, dachte ich. Es sah so aus, als sei er auf der Flucht und ich flitzte hinterher. Bei meinem Wagen angekommen, holte ich erst einmal tief Luft, denn nun war ich mit ihm allein und da wurde es mir dann doch ein bisschen flau im Magen. Wortlos packte er alle Sachen in meinen Kofferraum. Ich fragte ihn, ob er mit mir essen gehen wolle, denn es nieselte noch immer, und ihm nur die Tüte mit dem Gebäck in die Hand drücken, wollte ich nicht. Erstaunt schaute er mich an und nickte. In der Pizzeria um die Ecke bekamen wir einen Fensterplatz. Wir waren anscheinend die Sensation des Lokals, denn alle Leute gafften uns an.

Mittlerweile hatte ich schon Spaß an der Sache. Ich fragte nach seinem Namen, Beruf und anderen Belanglosigkeiten und dann endlich auch, wie er auf die Straße gekommen war. Lange schaute er mich prüfend mit seinen stahlblauen Augen an und ich meinte, er könne mir bis in die Seele sehen, doch dann begann er zu erzählen: „Vor fünf Jahren waren wir noch eine glückliche Familie mit den üblichen kleinen Reibereien. Ein Tag im September, es war der erste, ich werde ihn niemals vergessen. Ich hatte mir extra für den Morgen frei genommen, denn unser Sohn wurde eingeschult. Wir waren aufgeregter als Johannes; stolz standen wir auf dem Schulhof herum und ein wenig wehmütig schauten wir unserem kleinen Fratz nach, als er mit den anderen Kindern in der Schule verschwand; die Schultüte war so groß, dass er sie kaum tragen konnte. Ich musste dann zurück ins Büro, denn wir hatten noch einen eiligen Auftrag, den ich noch bis zur Mittagspause zeichnen wollte. Mittags wollten wir uns dann treffen, um zur Feier des Tages beim Italiener zu essen. Johannes Lieblingsspeise waren Spaghetti mit viel Tomatensauce und auch ich liebte die italienische Küche. Den Fotoapparat hatte ich mitgenommen, damit ich den denkwürdigen Tag auch im Bild festhalten konnte. Leider kam es dann nicht mehr dazu. Um zwölf Uhr bekam ich einen Anruf von der Polizei, dass ich sofort zur Grundschule kommen solle, es sei etwas passiert. Mehr wollte man mir am Telefon nicht sagen. Ich ließ alles stehen und liegen und jagte wie von Hunden gehetzt mit dem Auto los. An der Schule gab es schon einen großen Menschenauflauf. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich den Krankenwagen und daneben den Totenwagen stehen sah. Ich drängelte mich durch die Leute, und als ich dem Polizisten sagte, wer ich bin, schaute er mich mitleidig an und führte mich zum Krankenwagen, in dem meine Frau kauerte und herzerweichend weinte. Ein Beamter erklärte mir, was geschehen war, doch ich hörte alles nur wie durch Watte. Erst als der Arzt mich schüttelte, begriff ich, unser Johannes war angefahren worden und direkt gestorben. Schuld hatte meine Frau; sie stand mit ihrem Auto auf der anderen Straßenseite, und als die Schulneulinge aus dem Hof kamen, rief sie ihn bei seinem Namen und er rannte los. Er hatte keine Chance und auch der Autofahrer nicht, der mit einem Schock im Polizeiauto saß. An die nächsten Tage kann ich mich kaum erinnern, die Formalitäten, die Beerdigung und das viele Händeschütteln. Dann kamen die Leere, das verwaiste Kinderzimmer, der leere Stuhl am Esstisch und die Stille.

Die Wohnung glich einem Grab. Grabesstille. Wir redeten kaum noch miteinander, jeder hatte sich in seinem Schmerz vergraben, wir waren außerstande uns gegenseitig zu helfen. Dann fing meine Frau an zu trinken und später auch ich. Erst verlor ich meine Arbeit und danach die Wohnung. Meine Frau kehrte zu ihren Eltern zurück und ich ging auf die Straße." Während er sprach überkam mich ein Schauder nach dem anderen. Diese Hoffnungslosigkeit, die aus seiner monotonen Stimme und seinen Gesten drang, ließ auch mich stumm sein. Zudem musste ich mir schnell die Nase putzen und über die Augen wischen. Siegfried Neubert starrte stumm seine Serviette an. Man hätte denken können, er habe alles davon abgelesen. Seine Hilflosigkeit übermannte ihn wieder. Er stöhnte. Dies holte mich wieder zurück in die Realität. „Und wie soll das nun weitergehen? Einfach abtauchen, ist doch keine Lösung", fragte ich. Siegfried schaute mich aus gequälten Augen an, zuckte mit den Schultern und blieb stumm. Spontan griff ich zu meinem Handy und rief Axel an, einen befreundeten Architekten. In kurzen Zügen erzählte ich ihm die Geschichte und machte noch an diesem Nachmittag einen Termin für ein Vorstellungsgespräch aus. Ohne auf das verblüffte Gesicht meines Gastes zu achten, zahlte ich, nahm ihn an die Hand und fuhr mit ihm nach Hause. Siegfried zog einen Anzug meines Ehemannes an und nach einer halben Stunde stand ein völlig veränderter Mann vor mir. Ein Obdachloser hatte sich in einen attraktiven Geschäftsmann verwandelt, und seine leuchtenden Augen zeigten, dass die Veränderung nicht nur äußerlich war. Schelmig fragte er mich, mittlerweile waren wir zum „du" übergegangen: „Nimmst du öfters fremde Männer mit nach Hause und verwandelst sie vom Bettler zum Prinzen?" Am Nachmittag stellte sich ein selbstbe-wusster, in seinem Beruf bewanderter Mann im Architekturbüro vor und bekam den Job.

Heute nun gehört er zu unseren engsten Freunden, und wenn ihn manchmal die Erinnerungen in das tiefe, schwarze Loch ziehen wollen, stehen wir bereit, um ihn aufzufangen. Ein jüdisches Sprichwort sagt: Hast du ein Leben gerettet, so hast du die ganze Welt gerettet.