Aus nichts und allem

Christa Feltgen, Steffeln

In den 90er Jahren fahndete Pfarrer Werner Abresch aus Wesel am Niederrhein nach bestimmten kleinen Kunstwerken, die fremde Menschen während des Krieges in unserem Land hergestellt hatten. Es handelte sich um einfaches Holzspielzeug, das russische Kriegsgefangene in ihrer Freizeit bastelten, um es bei den Deutschen gegen Tabak oder Brot einzutauschen. Dieser Tausch war für beide Seiten gefährlich, aber Not kennt eben kein Gebot. Zu den kleinen Schnitzereien, die diese Männer herstellten, gehörten auch wunderliche Vögel aus einem einzigen Stück Holz, das so geschickt bearbeitet wurde, dass man es zum Schluss auseinander biegen konnte und dabei Flügel-und Schwanzfedern entstanden.

Irgendwann ist Pfarrer Abresch aber bei seiner Suche noch auf andere Gerätschaften gestoßen, die etwas mit dem Krieg zu tun hatten. Viele Menschen waren ausgebombt und hatten deshalb Mühe, für das wenige Essen, das sie sich kochen konnten, geeignetes Geschirr zu finden. Und so kamen Erfinderische auf die Idee, solche Dinge aus Stahlhelmen oder Munitionsteilen selbst herzustellen. Das Zeug lag ja noch überall in der Gegend herum. Und manches andere entstand damals: Kerzenleuchter aus Kartuschen, Brautkleider aus Fallschirmseide oder Jaucheschöpfer aus breit geklopften Stahlhelmen. Dabei spielte es bei den Helmen keine Rolle, ob sie einmal ein Deutscher oder ein Amerikaner getragen hatte. Später schämte man sich all des armseligen Behelfs und es wandert Stück für Stück auf die Müllkippen. Kaum einer wollte noch an diese Zeiten erinnert werden. Pfarrer Abresch war buchstäblich im letzten Augenblick auf die Reste dieser Sachen gestoßen und bezog sie nun in seine Sammlung ein. Als ich vor kurzem las, dass die Sammlung Abresch „Aus nichts und allem" eine eigene Abteilung in einem Weseler Museum bekommen hat, war ich auf einmal mit meinen Gedanken wieder in der Nachkriegszeit. Damals standen natürlich für jeden die Fragen, „Wie werde ich morgen satt und wo bekomme ich ein paar Lebensmittel her?" im Vordergrund. Unsere Familie hatte großes Glück, weil zu den Wohnungen in unserer Werkssiedlung jeweils ein schmales Stück Garten gehörte. Der musste damals hergeben, was er konnte, auch ohne dass wir ihn düngen konnten. Saatgut und Pflanzkartoffeln wurden über allerlei Umwege besorgt. Einmal wuselte sogar eine Schar kleiner Küken unter unserem Küchenherd herum. Die wurden nach und nach gegen Lebensmittel oder Gemüsepflanzen für den Garten eingetauscht.

Nachts mussten Vater und unsere Nachbarn die Gärten bewachen. Der Hunger ringsum war so groß, ohne Aufpasser wären unsere frisch gesetzten Pflanzen und Kartoffeln morgens wieder verschwunden gewesen. Nichts war mehr sicher, und die zwei Küken, die wir selbst behalten hatten, mussten wir jeden Abend in unserem Keller einschließen und morgens wieder nach draußen in ihren kleinen Stall bringen. Als sie dann größer waren, ließen sie uns bei den Bedingungen und bei dem wenigen Futter lange auf das erste Ei warten. Ich kann mich noch daran erinnern, dass mein Vater, der so kurz nach dem Krieg noch keine Arbeit hatte, mit dem Zug zu einem kleinen Dorf fuhr. Dort kannte er einen Bauern, der eine Rübenkrautfabrik betrieb. Vater half in der Erntezeit ein paar Tage dort aus und kam dann mit einem großen Glas Rübenkraut und einem Beutel Getreide wieder.

Obwohl er nichts vom Backen verstand, zermahlte er abends immer ein gewisses Quantum an Getreidekörnern mit Hilfe einer selbst gebastelten Mühle und vermischte das ganze, ohne das Mehl auszusieben, mit etwas Wasser, Salz und Rübenkraut zu einem Teig. Der wurde in einer flachen Kuchenform in den Ofen geschoben, wo das kostbare letzte Brikett vor sich hinzüngelte. Morgens war unser Brot fertig, oft ein bisschen krümelig oder ein wenig zu feucht, aber essbar und leider viel zu lecker. Es sollte doch für uns alle eine Weile reichen.

Einmal hatte meine Mutter in einer dunklen Kellerecke eine Tüte Mehl entdeckt. Sie freute sich sehr über ihren Fund, aber das kostbare Mehl hatte zu lange da gelegen und war bitter geworden. Es war nicht mehr zu gebrauchen und verdarb bei Gebrauch die anderen Lebensmittel im Kochtopf. Daraufhin bekam ich die Erlaubnis, aus dem Mehl einen Teig zu machen, und daraus Plätzchen für die Puppenstube zu fabrizieren. Wenn meine Freundin zum Spielen kam, waren hinterher regelmäßig die „Plätzchen" verschwunden. Da war wohl jemand noch hungriger gewesen als ich.

Als der Schulunterricht wieder begann, fehlte es an allem. Oft wussten wir Kinder nicht, wie wir unsere Schulaufgaben machen sollten, weil wir kein Papier hatten. Vater gab mir alte Abrechnungsbögen aus dem Werk, die auf der Rückseite noch beschriftet werden konnten. Bücher hatten wir nur, wenn wir solche von älteren Schülern bekommen konnten. Dabei hatte ich meine liebe Last mit einer Logarithmentafel meines Onkels, bei der zwar alles drinstand, was ich brauchte, aber nie auf der Seite, die die Lehrerin gerade aufgeschlagen hatte. Da hieß es dann suchen. Mit den Sachen zum Anziehen war es auch nicht besser. Wie viele Pullover wurden in der Zeit damals aufgeribbelt, weil sie nicht mehr passten. Aus der Wolle entstanden unter den Händen von fleißigen Müttern und Omas neue Kunstwerke. Die konnte man noch sehr gut tragen, aber die Sachen, die aus Zuckersack-Wolle gestrickt wurden, bereiteten uns Kindern viel Unbehagen. Sie sahen zwar sehr festlich aus, weil sie so schimmernd weiß waren, kratzten aber wegen der Knoten, die man beim Stricken machen musste, so sehr, dass es kaum auszuhalten war. Es war, als würde man einen Ko-kos-Teppich tragen. Leibwäsche zu bekommen, war fast nicht möglich. Waren die Kinder klein, konnte man Höschen und Hemdchen selbst stricken, aber die Jugendlichen waren schlimm dran. Entweder liefen die Baumwollsachen damals beim Waschen ein oder sie wurden immer weiter. Gepas-st haben sie nie, dabei hatten unsere Mütter doch meist dafür ein Wäschestück von sich selbst geopfert. Und zu so etwas konnte man wirklich Opfer sagen.

Kurz vor der Währungsreform war meine Konfirmation und es gab rein gar nichts mehr zu kaufen, weil die Leute alle auf das neue Geld warteten und ihre gehorteten Waren zurückbehielten. Der Mantel, den ich an dem Tag trug, war eine alte Wolldecke gewesen und schon fast zu klein. Mein Kleid war aus zwei Kleidern meiner Mutter geschneidert worden, und die einzigen Schuhe, die ich besaß, hatten Löcher in der Sohle. Meine Füße waren entschieden zu groß, als dass ich in den Hilfspaketen, die der Pfarrer ab und zu aus Amerika für die Kinder seiner Gemeinde bekam, etwas für mich hätte finden können. Mit den Konfirmationsgeschenken, die ich an dem Tag bekam, gäbe sich heute vermutlich kein Jugendlicher mehr zufrieden. Aber die Menschen hatten ja nichts mehr; alles was man nur halbwegs gegen Lebensmittel hatte eintauschen können, war aus den Haushalten schon verschwunden. Auch die Erbsensuppe, für diemeine Mutter monatelang gespart hatte, war zuletzt so etwas wie ein Reinfall geworden. In der Hoffnung, sich bei der Feier einmal richtig satt essen zu können, waren fast alle unsere Verwandten zu Besuch gekommen. Wollte meine Mutter nicht unhöflich sein, musste sie die Suppe ordentlich „taufen". Ich weiß noch, dass ihr dabei die Tränen gekommen sind. Man müsste eigentlich im nachhinein all den tapferen Vätern und Müttern ein Lob aussprechen, die unter solchen Bedingungen versucht haben, mit Hilfe ihres Erfindungsreichtums und durch ihre Liebe den Kindern damals doch noch zu einer halbwegs glücklichen Kindheit zu verhelfen. Einer Kindheit, in der es so ähnlich zuging, wie es Pfarrer Abresch in einem seiner kleinen Gedichte beschreibt: „Und keiner geht ohne den anderen nach Haus'. Und keiner will ohne den anderen daheim sein!".