Aus den Trümmern in die Zukunft

Alma war Gold wert!

Maria Aschemann, Gerolstein

Das Eintreffen amerikanischer Kampftruppen Anfang März 1945 erlebten wir wie viele Gerolsteiner und Pelmer Familien im Wald in einer Hütte. Wir hofften, dass damit endlich die Bombardierungen ein Ende haben würden und waren glücklich, wieder nach Hause zu kommen. Doch welch schreckliches Bild bot sich uns, als wir durchs Burgtor kamen! Nur noch die Hälfte unseres Hauses stand! Ein großer Teil der bis dahin noch erhaltenen Burgruine war ein Trümmerhaufen! Und dann der Blick vom Burgfelsen hinüber zur Munterley, es war schier unfassbar:

Unser schönes Gerolstein war ein einziges Trümmerfeld! Wie weh das tat, kann wohl nur derjenige nachempfinden, der das erlebt hat. Später hieß es, in nüchternen Zahlen ausgedrückt, Gerolstein sei zu 80 % zerstört worden und damit der am schlimmsten getroffene Ort im Kreis Daun. Man schätzte, dass während der Bombardierungen 300 bis 600 Menschen in der Stadt geblieben waren, von denen viele den Tod gefunden hatten. Meine Mutter und wir drei Geschwister hatten überlebt. Wir richteten uns in den noch verbliebenen Räumen unseres halbzerstörten Hauses notdürftig ein. Die Gerolsteiner, die nach und nach wieder zurückgekommen waren, hatten mit den Aufräumungsarbeiten und der Errichtung von Notwohnungen begonnen.

Die Ernährungslage befand sich in einer bisher nicht gekannten Misere. Bei den meisten begann der Kampf ums nackte Dasein. Nur noch eins bestimmte das Leben, der Hunger und die Jagd nach Essbarem. Großes Glück hatte derjenige, der bei den Bauersleuten arbeiten konnte und Naturalien als Lohn erhielt. Wilde Früchte wurden im Wald gesammelt. Jedes Stückchen Holz, jeder Tannenzapfen, jedes herabgefallene Ästchen, alles was man am Waldboden fand, wurde als Brennbares heimgetragen. In jenen Zeiten war der Waldboden blank. Ähren und Buchecker sammeln, verhalfen zu Mehl und Öl. Fett war Mangelware. Damals geisterte der von leeren Mägen geprägte Spruch umher: „Wenn esch meng Schrompere on dengem Fett broden darf, kanns dou och deng Fleesch on menger Zopp koche" (Wenn ich meine Kartoffeln in deinem Fett braten darf, kannst du auch dein Fleisch in meiner Suppe kochen.)

Nicht nur das in der Natur gesammelte Essbare half bei den knappen Rationen zu überleben, auch solcher Humor. Hilfreich, sogar nötig war auch, die Schreckensbilder in den hintersten Bereich des Hirns zu verschieben. Aus dem Chaos musste eine Gegenwart und eine Zukunft geschaffen werden. Dabei half auch der Anblick einer einzigen von Trümmern freigeräumten Straße, sogar einer einzigen wiedererrichteten Hauswand.

Endlich kehrte auch mein Vater im Juni 1945 nach Hause zurück. Das war schieres Glück, denn andere Männer blieben lange in Gefangenschaft, kamen krank nach Hause oder gar nicht mehr. Jetzt ging es mit vereinten Kräften an die Arbeit in unserem großen Garten auf der Löwenburg. Kartoffeln und Gemüse wurden angebaut. Mein Vater befasste sich sofort wieder mit der Bienenzucht. Honig war nicht nur ein wichtiges Lebensmittel und ein Ersatz für den nicht vorhandenen Zucker, er war ein beliebtes Tauschobjekt zur Beschaffung von Baumaterial und anderem. Jetzt war unser großes Ziel, die Anschaffung einer eigenen Kuh. Damit hätten wir selbst Milch, Quark und Butter! Wieder hatten wir großes Glück, Alma, eine Schwarzbunte, stand jetzt in unserem Stall. Mutter maß die gemolkene Milch, siebenundzwanzig Liter waren es am Tag! Erstklassige fettreiche Milch! Mehr als unsere Familie brauchte! Alma war Gold wert!

tmp1FF-1.jpg

Kuh Alma

Jetzt konnte der Wiederaufbau unseres Hauses beginnen. Jetzt würden die Handwerker kommen, wir konnten sie gut beköstigen. Die Arbeitstage zogen sich über alle hellen Stunden des Tages hin. Auch wir Kinder beteiligten uns. Wir versorgten Alma und hüteten sie. Wir halfen im Heu und bei der Gartenarbeit. Freizeit war Mangelware für Erwachsene und Kinder. 1948 kam die Währungsreform. Von der Löwenburg aus sahen wir überall die Häuser aus den Trümmern emporwachsen. Unsere Heimatstadt mit ihren alten Straßenzügen bot allmählich wieder das vertraute Bild. Auch unser Haus war fertig, damit auch die Gaststube. Sie war sogar moderner und gemütlicher als vorher. Erste Gäste kamen. Diese erhielten nicht nur frisch gezapftes Bier, es gab auch kräftigende Schinken-schnittchen aus eigener Schlachtung.

Ein großer Anziehungspunkt war das Klavier in unserer Gaststube; so wurde sie ein beliebter Treffpunkt für Musik- und Sangesfreunde. Wenn sich Peter Breuer ans Klavier setzte und spielte, umstanden ihn bald eine Gruppe Sänger, egal, ob es Heimatlieder oder Operettenmelodien waren. Gute Stimmen besaßen die Brüder Julius und Josef Agnes und Josef Breuer. Liebhaber der klassischen Musik kamen durch das Klavierspiel von Paul Servas ganz auf ihre Kosten. Diese Zusammenkünfte zogen immer mehr Gäste an. Jetzt hatten die Leute endlich etwas Freizeit am Wochenende, konnten schließlich auch wieder etwas ausgeben für derartige Geselligkeit. Und sie hatten viel zu erzählen. Die Geselligkeit wurde sehr geschätzt, und mein Vater wuss-te viele der alten und neuen Geschichten meisterhaft zu erzählen.

An einem dieser Abende kam Bauer Schmitz mit Sohn Rudi aus der Lindenstraße mit dem Traktor durchs Burgtor. Sie kamen Alma abholen. Wir hatten unsere gute Schwarzbunte an sie verkauft. Die Gastwirtschaft beanspruchte jetzt alle Kräfte. Wer sollte die Kuh melken, zur Weide bringen, wer noch ihr Heu machen? Jedes Molkereiprodukt gab es inzwischen in der Stadt zu kaufen. Wir Kinder wussten, wie die Kuh uns geholfen hatte und mochten Alma ja, aber nicht die Arbeit, die ihre Haltung uns abverlangte.

Die schöne Kuh, unsere Ernährerin in Nottagen, war jetzt überflüssig geworden. Nur für einen nicht, unseren kleinen Bruder Peter, der war an Alma-Milch gewöhnt und wollte sie nicht missen. Als der Traktor vor unseren Stall fuhr, lag Klein-Peter schon im Bett und schlief. Vater lud die Männer in die Gaststube zum Umtrunk ein. Der Gesang und die Gesellschaft gefielen den beiden so gut, dass Alma erst in den frühen Morgenstunden ihren Einzug auf dem Schannessenhof (heute Lindenhof) halten konnte. Der kleine Peter bekam nun seine Alma-Milch vom Milchgeschäft Peter Schenten geliefert. Nachdem die Außenanlage mit Tanzfläche und Gartenpavillon wieder hergerichtet war, stand alles auf der Löwenburg für das früher so beliebte Tanzvergnügen im Freien bereit.