Sparen, bewahren, improvisieren

Gretel Körner - te Reh, Ahlen

Die heutige Bevölkerung der Bundesrepublik unterscheidet sich in ihren prägenden Kindheitserfahrungen fundamental, je nachdem, ob sie älter oder jünger als etwa 50 Jahre ist. Die Rolle der Kinder in Familie und Gesellschaft hat sich entscheidend verändert hinsichtlich des Erziehungsstils, der Normen und Wertvorstellungen und nicht zuletzt auch durch die materiellen Bedingungen.

„Ach, das können wir ja neu kaufen", hörte ich neulich ein Kind sagen, das seine Hose auf dem Spielplatz zerrissen hatte. Ich stutzte! Denn die Menschen, die echte Armut und Mangel nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten, haben ihre Kinder dazu erzogen, sorgsam mit Kleidung und Besitz umzugehen. Es scheint, dass mit Geld heute im allgemeinen Wohlstand alles schnell ersetzt werden kann, doch ob damit auch gleich verbunden sein muss, dass man achtlos mit vielem umgeht? Ich musste beispielsweise als Kind immer darauf achten, dass meine Kleidung teilweise für die kleineren Geschwister bewahrt und sorgsam behandelt werden musste. Selbst trug ich auch abgelegte Kleidchen meiner zwei Jahre älteren Cousine vom Niederrhein. Ja, es war sogar spannend, wenn ein Paket mit „neuen" Kleidern ankam. Wir prägten uns ein, dass Dinge auch für andere noch von Nutzen sein könnten. Berichte und Erzählungen von Krieg und Flucht, Neuanfang und Verzicht berühren den Kern der Menschen. Man entfernt sich von Fakten hin zu Gefühlen, es ist ein Erinnern aus der Tiefe der Erfahrung. Und die Erfahrungen von Entbehrungen müssen nicht nur negativ sein. Sie können der Arbeit mehr Bedeutung verleihen. Vielleicht fehlt das heute manchen Menschen.

Ich selbst, Jahrgang 1944, erlebte sowohl die materielle Not und Einschränkung der Nachkriegszeit als auch den bescheidenen Wohlstand der 1950er Jahre. Im Unterbewus-stsein meist sind mir Nachwirkungen des Krieges und der Nachkriegszeit präsent, oftmals nur emotionaler Art. Bis zum heutigen Tag kann ich beispielsweise kein Stückchen Brot wegwerfen, wenn es einmal hart geworden ist. Ebenso ist meine Sammelleidenschaft für Beeren, Pilze und Nüsse erhalten geblieben. Das Leben mit und in der Natur ist mir äußerst wertvoll. Zeit haben, für mich und andere, das Geheechnis (Geborgenheit in der Familie) ist mir sehr wichtig. Es gibt Gott sei Dank nicht nur traumatische Kindheitserfahrungen aus der „schlechten Zeit". Es gab auch viele glückliche Momente und das Gefühl, geliebt zu werden. Natürlich war es manchmal lästig, die kleineren Brüder zu versorgen, sie stets mitzuschleppen, wenn man sich mit Gleichaltrigen zum Spiel traf. Jungen wie Mädchen hatten die Aufgabe, auf die jüngeren Geschwister aufzupassen, das war eben nicht anders. Aufräumen, spülen, Schuhe putzen, das waren Selbstverständlichkeiten. Lob von den Eltern gab es kaum für diese Hilfe. Die Kinder aus ländlichen Gebieten halfen auf dem Feld mit, bei der Kartoffelernte, dafür gab es extra ein paar Ferientage im Herbst. Wir erlebten damals keine stressige Kindheit, wohl eine arbeitsreiche. Früh lernten wir Mädchen häkeln und stricken. Aus Wollresten und aus älterer Wollkleidung, die „aufgeribbelt" wurde, fertigten wir Schals, Mützen, sogar Pullis für die Geschwister. Deckchen und Kissen, gehäkelt, bunt, letztere mit dem unnachahmlichen Kniff in der Mitte, verschönten die Wohnung. Waren dies nicht auch alles Beiträge zum Aufbau? Erbracht von den Kindern, während ihre Eltern mit „bloßen Händen, Schaufeln und viel Mut" (Schlagwort aus der Fernsehwerbung 2004) ihre Pflicht taten.

Die Erwachsenen entwickelten ungeahnte Kräfte, um nach dem Krieg wieder neu anzufangen. Die Redewendungen: „über sich hinauswachsen" oder „persönliche Grenzen überwinden" beschreiben, was in einer Krise geschieht. „Das Eigentliche im Menschen wird eher durch einen Stachel als durch eine Liebkosung zum Leben erweckt", schrieb der französische Schriftsteller André Gide. Ob wir eine Krise meistern oder nicht, hängt davon ab, worauf wir zurückgreifen können. Also auf soziale Unterstützung und die Erfahrung aus der Kindheit, dass schwere Krisen erfolgreich zu bewältigen sind und dass es Trost gibt. Im Unbe-wussten steckt oft ein Vorratslager ungenutzter Möglichkeiten.

Die Menschen waren damals sehr erfindungsreich. Alles Essbare der Natur wurde gesammelt, z. B. Bucheckern, die zur Ölgewinnung verarbeitet wurden, Rüben zu Rübensaft gekocht als Brotaufstrich, Beeren als Medizin verabreicht, Nüsse und Äpfel waren Weihnachtsgeschenke, Pilze stellten d i e Delikatesse schlechthin dar. Aus einfachsten Zutaten kochte man einigermaßen passables Essen, allerdings fast nur Suppen, die, wegen des „einmaligen" Geschmacks heute eine Renaissance erfahren. Brennnesseln ersetzten den Spinat, frische Löwenzahnblätter ergaben einen leicht bitter schmeckenden Salat. Männer wie Frauen brachen auf zu Hamstertouren, versetzten Entbehrliches für Essbares, es wurde „ge-maggelt". Damit es sonntags auch einmal Fleisch gab, hielt man Hühner, Ziegen, Karnickel und Schweine. Um ein Schwein besitzen zu dürfen, benötigten die Halter eine Genehmigung des Bürgermeisteramtes. Hatte man diese Erlaubnis eingeholt, kauften die Leute gleich zwei Ferkel, wovon nun eins „schwarze Borsten" hatte. Meist fiel dies niemandem auf. War dann endlich das Tier gut gemästet, bestellte man den Haus-Schlachter, der das Schwein fachgerecht halbierte und an einer Leiter zum Auskühlen aufhing. Natürlich dampfte es gewaltig in der Futterküche, wo man zum ausgemachten Termin kochendes Wasser bereithielt. (Und für den Schlachter gab es ein selbst gebranntes Schnäpschen.) Anderntags wurde die Sau nach Wünschen des Eigentümers verarbeitet. Speck und Schinken räucherte man im Rauch der selbstgepflückten, frischen Wacholderzweige. Eine große Neuerung kam mit Dosen zum Selbstverschließen auf, sodass das mühevolle Einkochen in Weckgläsern vorbei war. Von einer Bäuerin erfuhr ich, wie man damals das Gewicht eines Schweines berechnen konnte: Man misst mit einem Metermaß den Bauchumfang des Tieres, gleich hinter den Vorderfüßen. Ein Meter Umfang gleich 150 Pfund Gewicht, jeder weitere Zentimeter gleich 5 Pfund zusätzlich.

Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Not- und Mangelzeit. Das Motto hieß: „Sparen, bewahren, hegen und pflegen, schonen, sammeln, bevorraten, improvisieren". Fotos erzählen von diesen Lebensumständen. In einer Zeitung las ich, dass, obwohl es den Menschen damals wirtschaftlich so viel schlechter ging als in der heutigen Zeit, in den 1950er Jahren dreimal so viel gelacht wurde wie heute - bis zu 18 Minuten täglich!!