Aufbruch in eine neue Zeit

Gisela Bender, Deudesfeld

Endlich ist am 8. Mai 1945 der unselige Krieg zu Ende. Deutschland ist ein Trümmerhaufen. Millionen Menschenleben sind zu beklagen; Millionen werden vertrieben. Die vier alliierten Siegermächte übernehmen die Regierungsgewalt in Deutschland. Angelegenheiten, die Deutschland als Ganzes betreffen, werden vom Kontrollrat der vier alliierten Oberbefehlshaber mit Sitz in Berlin entschieden. Ansonsten ist jeder der vier Siegermächte für die Geschehnisse in seiner Zone verantwortlich. Die Hoch- und Südeifel, und somit auch mein Heimatort Deudesfeld, gehörten zur französischen Zone. Aus den Städten war die Bevölkerung aufs Land evakuiert worden. Heimkehrende Soldaten, Heimatvertriebene und Flüchtlinge drängten ebenfalls in die ländlichen Gebiete. Wer Verwandte auf dem Land hatte, versuchte da unterzukommen. Mein Onkel Pittchen, ein Bruder meines Vaters, hatte vor dem Krieg ein Lebensmittelgeschäft in Düsseldorf. Während er als Soldat an der Front diente, wurde sein Geschäft ausgebombt. Seine Frau und seine Tochter kamen nach einer Odyssee und verschiedenen Aufenthalten in Thüringen hier in Deudesfeld an. Im Heimatort ihres Mannes hoffte Tante Erna auf Zuflucht bei den Verwandten.

Sie hoffte, dass es ihren Mann, falls er noch lebte, auch hierher verschlagen würde. So kam es dann auch. Irgendwann war Onkel Pittchen auch da. Vorrangig galt es nun, die Verpflegung für die Familie zu sichern. Da sein Bruder, mein Vater, die elterliche Landwirtschaft weiter führte, bot er hier seine Mithilfe an. Onkel Pittchen war von Beruf Kaufmann und er verstand sein Handwerk. Ruckzuck hatte er eine Wohnung, zwei Zimmer, im Dorf gefunden. Irgendwie waren auch einige Möbel hier, die sie hatten retten können. Ansonsten stand die Familie mittellos auf der Dorfstraße. Tante Erna passte in ihrem Erscheinungsbild wenig ins bäuerliche Dorfbild; sie war eine Städterin und blieb es, solange sie im Dorf lebte. Nie sah man sie in den nachfolgenden Jahren ohne Hut und Handtasche zum Einkaufen gehen. Obwohl sie von den Dorfleuten belächelt wurde, wahrte sie ihre Würde. Sie war zu jedermann freundlich, doch engere Freundschaften pflegte sie nie einzugehen. Der wesentliche Unterschied zu den Dorfleuten war jedoch ihre Konfession. Sie war evangelisch. Zu der damaligen Zeit war es noch ungeheuerlich, einen Partner mit anderem Glauben zu heiraten. Tante Ernas Religionszugehörigkeit führte sogar dazu, dass sie jahrelang von den Dorfleuten geschnitten wurde. Die eigentliche Leidtragende war jedoch deren beiden Tochter, die im Dorf zur Schule ging. Wenn die anderen Kinder Religionsunterricht hatten, wurde sie ausgeschlossen. Aber im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie im Dorf schnell Freundschaften geschlossen.

Während Onkel Pittchen uns bei der Heu- und Getreideernte half, richtete sich Tante Erna ihr neues Heim ein. Die Hilfe des Onkels kam bei uns gut an, denn mein Vater war krank und verbraucht aus dem Krieg nach Hause gekommen. Der Onkel wurde bei uns verköstigt und konnte das eine und das andere für Frau und Tochter mitnehmen. Manchmal sehe ich ihn in Gedanken noch am Mittagstisch, schmatzend über die Schüssel mit dicker Milch gebeugt. Im Garten legte er Beete an, und just in den nächsten Jahren erntete er Erdbeeren und, keiner im Dorf wollte glauben was er sah, Tomaten. Mein Bruder und ich, so acht und zehn Jahre alt, mussten ihm bei der Heuernte helfen. Da zeigte er sich dann wenig geduldig mit uns Kindern. Während ich die Arbeiten als wichtig erkannte, waren sie meinem Bruder zuwider. Dementsprechend war dann auch das Resultat. Grund für Onkel Pittchen zu schimpfen, das er auch oft und gerne tat. Einmal heftete er meinem Bruder bei der Arbeit einen Zettel auf den Rücken, worauf er mit großen Buchstaben geschrieben hatte, „nicht zu gebrauchen". Damit schickte er den schmächtigen Jungen durchs ganze Dorf nach Hause.

Auf diese und ähnliche Weise wurden wir von ihm bestraft. Geschlagen hat er uns jedoch nie. Aber damals wie heute habe ich das Empfinden, dass die Arbeit in der Landwirtschaft meinem Onkel im Grunde genauso zuwider war wie meinem Bruder. Während wir uns das ganze Jahr über mit der mageren Landwirtschaft herumschlugen, ging der Onkel außerhalb der Ernteperiode seiner eigentlichen Berufung nach. Er machte Geschäfte!

Der Krieg hatte uns Deutsche arm gemacht. Weil Geld und Wertpapiere durch keine realen Werte mehr gedeckt waren, wurden Zigaretten und Kaffee die Währung der Nachkriegszeit. Für diese Tauschartikel waren auf dem Schwarzmarkt fast alle Wirtschaftsgüter zu haben. Der illegale Handel blühte und Onkel Pittchen war mittendrin. Im Dorf trieb er Butter, Schmalz und Fleisch auf, um es in den großen Städten wie Köln oder Düsseldorf gegen Wirtschaftsgüter einzutauschen. Dafür musste er jedoch aus der französischen Zone aus- und in die britische Zone einreisen. Wenn er von den Besatzern keine Reiseerlaubnis erwirkt hatte, fuhr er, wie viele andere auch, einfach „schwarz". Das war gefährlich. Wäre er von den Besatzern hier oder in der britischen Zone aufgegriffen worden, dann wäre er in einem Straflager gelandet. Oft passierten auf diesen Schmuggelfahrten auch Überfälle. Onkel Pittchen hatte Glück und seine Geschäfte liefen gut. Mit der Währungsreform 1948 war das Ende der Viermächte-Verwaltung besiegelt. Jeder Deutsche erhielt 40 Deutsche Mark, unser neues Geld mit einem realen Wert. Man konnte jetzt wieder auf normalem Wege kaufen und verkaufen. Onkel Pittchen war in seinem Element. Schon in den ersten Monaten nach der Währungsreform trug er in seiner Rückentrage die ersten Wirtschaftsgüter in unser Dorf hinein. Er stellte einigen Familien im Dorf ein Radio auf den Tisch. Die Einwände der Leute, dass ein Radio nun wohl nicht der wichtigste Artikel sei, den man brauchte, redete er ihnen aus. Ja, reden und argumentierten, das konnte er. Acht bis zehn Tage ließ er gewöhnlich die Radios in den Häusern stehen. Kam er dann, um sie wieder zu holen, dann hatten die Leute sich so an den Unterhaltswert des Gerätes gewöhnt, dass sie es nicht mehr missen wollten und kauften es. Onkel Pittchen hatte ein Gespür dafür, immer rechtzeitig etwas Neues zu beginnen. Nachdem er Deudesfeld und alle Nachbardörfer mit Radios versorgt hatte, verkaufte er in Kooperation mit einem Geschäftsmann aus Eisenschmitt nun Motorräder.

Anschließend vermittelte er für ein Dauner Autohaus Volkswagen. Ein Markt mit Perspektiven. Dank Onkel Pittchens Händlertätigkeit waren seine Kunden in diesen Jahren durch die Radios besser informiert und durch die Fahrzeuge auch mobiler als andere.

Zwischenzeitlich war der Onkel in dem Gebiet der damaligen Amtsverwaltung Niederstadtfeld zum Fleischbeschauer avanciert. Bei den zahlreichen Hausschlachtungen fiel oft ein frisches Stück Fleisch für ihn ab. Seine Mitarbeit bei uns in der Landwirtschaft hatte er längst eingestellt. Maschinen waren an seine Stelle getreten. Einem Geschäftsmann wie unserem Onkel war schnell klar, wie rasant die wirtschaftliche Entwicklung fortschreiten würde. Er wurde Nutznießer des nachfolgenden Wirtschaftswunders. Bald wendete er sich einem völlig neuen Aufgabengebiet zu. Er hatte erkannt, dass die aufkommende Motorisierung auch zahlreiche Gefahren mit sich brachte. Gegen diese musste man sich absichern. Von nun an schloss er für einen großen Konzern Versicherungen ab. Für jeden und für alles machte er den Leuten den benötigten Versicherungsschutz schmackhaft. Nach den Grund- und Sachversicherungen folgten die Kapitalversicherungen. Mit dem Erreichten konnte er zufrieden sein. Viel Zeit, um die Früchte seines Lebenswerkes genießen zu können, war ihm jedoch nicht beschieden.

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Sputzzopp

Maria Fritschen, Gerolstein

„Unser tägliches Brot gib uns heute", so beten wir vor uns hin. Denken wir dem tiefen Sinn dieser Worte nach, kommt uns zu Bewusstsein, wie selbstverständlich wir den Brotkauf in der heutigen Zeit für uns in Anspruch nehmen. Doch das war nicht immer so. In der Kriegs- und Nachkriegszeit - den sogenannten Notjahren - waren die Landwirte als Voll-Selbstversorger eingestuft. Sie erhielten Lebensmittelkarten für den lebensnotwendigen Einkauf. Den sehr strengen Abgabelieferungen ihrer Produkte mussten sie unbedingt Folge leisten. So konnte man in einer Tageszeitung von Mittwoch, 13. August 1947 lesen:

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Die Getreidebewirtchaftung

Für das Getreidewirtschaftsjahr 1947/48 (vom .1. Juli 1947 bis 30. Juni 1948) gelten folgende Bestimmungen:

Bei Brotgetreide besteht totale Ablieferungspflicht für Roggen, Weizen, Gerste und Gemenge aus diesen Getreidearten. Abzuliefern ist alles, was über den Saatgutbedarf, der 2 dz je ha beträgt, und die Selbstversorgerration, die mit 150 kg pro Selbstversorger und Jahr in Ansatz gebracht werden darf, hinausgeht. Die Verfütterung von Brotgetreide ist untersagt und wird bestraft, Unter das Verbot fällt auch die Verfütterung von Gerste. Das Brotgetreide ist sofort zu dreschen und unmittelbar nach dem Drusch an den zugelassenen Handel, die Genossen schatten und aufkaufsberechtig-ten Mühlen gegen Ablieferungsbescheinigungen abzuliefern.

Bis auf weiteres darf Gerste nicht von Mühlens sondern nur vom Handel und von Genossenschaften aufgenommen werden, Mälzereien und Brauereien dürfen Gerste weder unmittelbar beim Erzeuger kaufen noch für dessen Rechnung einlagern. Der Handel darf Gerste an Brauereien und Mälzereien nur auf Grund von Einkaufsberechtigungsschei-nen. die vom Landesernährungsamt ausgestellt sind, abgeben. Handel und Genossenschaften haben außer der jeweiligen Brotgetreidebereitstellungspflicht eine besondere Andienung in bezug auf Gerste monatlich vorzunehmen.

Die Aushändigung der Mahlkarte und die Erteilung der Schlachtgenehmigung darf durch Ernährungsämter und Kar-tenstellen nur vorgenommen werden, wenn die Ablieferungspflicht erfüllt ist. Was Futtergetreide und Rauh-futter anbetrifft, so erhält für Hafer und Heu jeder Erzeuger durch den zuständigen. Landrat bzw. das Kreisernäh-rungsamt eine bestimmte Umlage, deren Höhe noch festgesetzt wird. Bis zur Erteilung dieser Umlage können Hafer und Heu nur an aufkaufsberechtigte Händler und Genossenschaften abgegeben werden. Ein unmittelbarer Verkauf von Er-zeuger zu Erzeuger oder an Verbraucher ist nicht statthaft.

Durch diese Vorschriften hatten selbst Landwirte nur das Nötigste zum Essen. Eltern mussten Einfallsreichtum haben, um ihre Kinder satt zu bekommen. In der Nachbarschaft existierte noch eine ganz alte Schrothammermühle, in der Hafer für das Vieh zerkleinert wurde. Die besten, groben Haferstückchen siebte und sortierte man mit viel Mühe und Ausdauer aus, um eine Hafersuppe daraus zu kochen. Abwechselnd wurde sie mit Magermilch oder Gartenkräutern schmackhaft gemacht. Trotz einer aufwendigen Auslese blieben immer noch Haferschalen in dem wertvollen Nahrungsprodukt. Diese Stückchen setzten sich so gerne zwischen den Zähnen fest. Das war für die Kinder unangenehm. Geringschätzig wurde die Suppe „Sputzzopp" genannt.

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In dieser großen Notzeit kamen viele Menschen aus der Stadt in die Bauerndörfer „hamstern". Zum Tausch wurden Hausgegenstände angeboten. Als eines Tages ein müder, abgespannter Mann bei einer Großfamilie eintrat und seine selbstangefertigten Steingutwaren zum Tausch anbot, war Essenszeit. Er wurde zum Mitessen eingeladen. Ganz einfach stellte man einen Teller mit dem nötigen Besteck in die Tischrunde. Der Gast konnte sich bedienen. Als er sich nach dem Essen so lobend für die wohlschmeckende Mahlzeit bedankte, bekam die Hafersuppe für uns Kinder eine ganz andere Wertvorstellung. Aus dieser Bekanntschaft wurde Freundschaft.

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