Meine ersten Schuljahre

Tamara Retterath, Lirstal

Ein Zeitzeuge schilderte mir seine Erinnerungen an die ersten Schuljahre der Nachkriegszeit folgendermaßen: In einem kleinbäuerlichen Betrieb aufgewachsen, wurde ich im Herbst des Jahres 1946 eingeschult. Der erste Schultag war natürlich etwas ganz besonderes und meine Mutter begleitete mich ausnahmsweise bei meinem allerersten Schulweg. Die Volksschule lag im zwei Kilometer entfernten Nachbarort; Omnibusse gab es in der hiesigen Region während der Nachkriegszeit nicht, und so erledigte man fast alles zu Fuß. Transporte wurden meist mit dem Pferde- oder Viehfuhrwerk durchgeführt. Schultüten wie wir sie heute kennen, gab es damals nicht. Als Schulneuling war man froh und glücklich, einen ledernen Schulranzen, eine kleine Schiefertafel mit Schwamm und Griffel und einen Griffelkasten mit Schreibutensilien sein eigen nennen zu können. Ich hatte diese Schulsachen als Weihnachtsgeschenk „vom Christkind" bekommen. Aus unserem kleinen Ort gingen insgesamt acht Kinder in die Schule des Nachbardorfes, aber ich war der einzige Erstklässler unter dieser Rasselbande. Für mich als Schulneuling begann der Schulunterricht zu einer späteren Uhrzeit als für die übrigen Schüler; deshalb musste ich als Einziger aus unserem kleinen Ort den Schulweg alleine bewältigen. Zwischen meinem Elternhaus und dem Schulort lag ein dunkles Waldstück, das mir Furcht einflößte. In meiner Phantasie hausten darin Räuber und Banditen, und ich pfiff vor Angst laut vor mich hin, um mir selber Mut zu machen und das Knacken der Äste nicht zu hören. Unterhalb des Waldgrundstücks befand sich eine Lagerstätte, an der sich oft Zigeuner niederließen. Diese Roma und Sinti, wie wir sie heute nennen, zogen damals noch mit Pferd und Wagen durch die Lande. Auch vor ihnen hatte ich Angst. Erwachsene erzählten, Zigeuner würden blonde Kinder stehlen, da für diese schwarzhaarige Volksgruppe ein hellblondes Kind etwas Besonderes war. So mieden wir jene Stelle, wenn sie dort lagerten. Einmal traf ich unseren Nachbarn auf meinem Nachhauseweg. Er schürte meine Angst, indem er mich vor den Zigeunern warnte, die wieder an ihrer gewohnten Stelle lagerten; ich solle schnellstens über einen Umweg nach Hause eilen. Schweißgebadet lief ich voller Furcht, gestohlen zu werden, durch den Wald und erreichte atemlos wie ein gehetztes Tier unser Haus. Erst Jahre später fand ich heraus, dass diese Leute gar nicht so waren, wie uns immer geschildert wurde, zumal auch die Zigeunerkinder zeitweise in unsere Schule gingen. Sie hatten dieselben Lernhefte wie wir und konnten sich unserem Lehrstoff daher verhältnismäßig gut anschließen.

Im Herbst gab es besonders starke Stürme, die so gewaltig waren, dass ich mich als kleines Kind kaum auf der Straße halten konnte. Der Regen peitschte mir manches Mal ins Gesicht, und ich hatte das Gefühl, tausend Nadeln würden zustechen. Mütze und Handschuhe waren ebenso wie auch Socken, Strümpfe und Pullover aus Schafwolle und von der Oma oder Mutter selbst gestrickt. Unsere Kleidung war zwar warm, doch schützte sie nicht gegen die Feuchtigkeit, auf gar keinen Fall gegen starke Regengüsse und Herbststürme. Sie saugte sich innerhalb kürzester Zeit voll Wasser, und man war völlig durchnässt, wenn man an seinem Zielort ankam. Unser Schuhwerk bestand aus handgefertigten Lederschuhen mit Nägeln unter der Sohle. Mangels Stiefeln trug man diese Nagelschuhe auch im Winter bei Eis und Schnee. Extreme Schneefälle mit starken Schneeverwehungen waren damals keine Seltenheit. Selbst bei diesen harten Witterungsverhältnissen war es undenkbar, einfach daheim zu bleiben und nicht zur Schule zu gehen. So machte ich mich als Sechsjähriger auch in jenem Winter ganz alleine auf den Schulweg. An meinem Schicksalstag war die Sicht von heftigem Schneegestöber stark eingeschränkt. Auf halber Strecke konnte ich wegen der Verwehungen keine Straße mehr sehen. Straßenbegrenzungssteine fehlten damals noch, und die rechts und links des Weges verlaufenden Gräben waren gänzlich zugeweht. So kam ich von der Straße ab und fiel in den Seitengraben. Ich wollte schnell wieder aufstehen, doch so sehr ich mich auch bemühte, es sollte mir nicht gelingen. Im Gegenteil, je mehr ich mich bewegte, umso tiefer sank ich kleiner Junge ein. Hilflos lag ich auf dem Rücken und das Gewicht des Schulranzens zog mich nach unten in den Schnee. Ich war dem Schicksal machtlos ausgeliefert. Zu dieser Zeit verkehrten noch keine Schneepflüge auf der Strecke, und bei dieser Witterung mieden auch Autos die Straßen. Angst erfüllte mich, ich würde hilflos erfrieren! Von selbst konnte ich mich keinesfalls mehr befreien. Die Lage schien aussichtslos. Plötzlich sah ich meinen Schutzengel, der sich über mich beugte, mich aus den Schneemassen herauszog und aus der Todesangst befreite. Der Engel war ein mir bekannter älterer Herr, der auf dem Rückweg vom Nachbarort war, wo er einige Besorgungen gemacht hatte. Ich dankte meinem Lebensretter und setzte meinen Weg trotz alledem weiter Richtung Schule fort. Völlig durchnässt und verfroren kam ich in der Schule an, wo unsere Lehrerin mich an dem wärmenden Kohleofen in der Mitte des Klassenraumes aufwärmen ließ. Ich sollte die Oberbekleidung ausziehen, um sie am Ofen zum Trocknen aufzuhängen und da ich - wie damals üblich - ein Hemd und eine kurze Hose unter meiner Winterbekleidung trug, war das kein Problem.

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Einschulung im Jahre 1946

Als ich in das 2. Schuljahr versetzt war, begann mein Unterricht zur gleichen Zeit wie bei den älteren Schülern, so dass wir alle gemeinsam zur Schule gehen konnten. Acht Schüler aus unserem Dorf marschierten nun zusammen los, was den Schulweg weitaus angenehmer erscheinen ließ.

Eines Winters kamen wir wieder einmal durchnässt in die Schule, und das Fräulein fragte uns, ob wir alle noch eine Hose unter unserer Oberbekleidung angezogen hätten. Wir bejahten dies, und so wies sie uns an, die nassen Sachen zum Trocknen an den Ofen zu hängen. Wir alle trugen kurze Hosen und lange selbst gestrickte Strümpfe unter der Kleidung; nur einer unserer Mitschüler, der bei der Frage der Lehrerin vorher noch eifrig genickt und lautstark bejaht hatte, stand in seiner Unterhose da und hat sich zu spöttischem Gelächter der gesamten Klasse so fast nackt an den Ofen gesetzt. An einen Vorfall, der sich im Frühjahr ereignete, erinnere ich mich, als ein Mitschüler in der Schulpause einen Hasel-nussstrauch mit dem Taschenmesser bearbeitete. Er wollte die Rinde entfernen und bat mich, den Stecken mit festzuhalten. Behilflich wie ich war, erfüllte ich ihm den Wunsch, ohne die drohende Gefahr zu erkennen. Nach wenigen Minuten rutschte er mit seinem Messer von dem Stock ab und stieß mit der Klinge in meine rechte Hand. Aus einer breiten Schnittwunde schoss das Blut nur so heraus. Während ich mir die Wunde mit einem Taschentuch notdürftig abband, sammelten sich alle Schulkinder erschrocken um mich. Auch das Fräulein wurde auf mich aufmerksam. Mein Taschentuch konnte den starken Blutfluss nicht zum Stoppen bringen. Da die Lehrperson für solche Zwischenfälle nicht gerüstet war - Verbandsmaterial stand in der Schule wohl noch nicht bereit - packte sie mir meine Schulhefte in den Ranzen, schnallte ihn mir über den Rücken und schickte mich alleine nach Hause. Undenkbar in heutiger Zeit. Ebenfalls für heutige Schüler kaum vorstellbar waren damals übliche Prügelstrafen. Wenn man unachtsam war und sich während des Unterrichts mit dem Mitschüler unterhalten hatte, musste man sich nach dem Unterricht bei dem Fräulein melden und erhielt drei Stockschläge auf die Innenfläche der Hand, was besonders schmerzte. Auch Straf arbeiten wurden verteilt, wenn sich ein Schüler in den Augen des Lehrers daneben benommen hatte. Dann musste der Schüler nach Beendigung des normalen Unterrichts eine Stunde alleine nachsitzen oder bekam viele Seiten Hausarbeit aufgebrummt.

An einem schönen Sommertag suchte das Fräulein in der Klasse zwei gewissenhafte Schüler aus, die bei dem Lehrer in der Schule des Nachbarortes ein Schriftstück abholen sollten. Auch ich wurde ausgewählt. Die Lehrerin sagte uns: „In zwei Stunden seid ihr gewiss wieder zurück. Dann habt ihr ja genügend Zeit." Wir beide gingen los, zunächst auf dem vorgeschriebenen Weg, doch dann suchten wir uns eine Abkürzung durch ein Wiesental. Hier mussten wir einen größeren Bach überqueren. Es war ein warmer Tag, und wir entdeckten in dem Gewässer kleine und große Forellen, die sich im Lichtstrahl der Sonne tummelten. Wir versuchten dieselben zu greifen, doch das misslang. Jedoch gaben wir die Hoffnung nicht auf und versuchten es immer wieder aufs Neue. Unseren eigentlichen Auftrag hatten wir schnell vergessen; wir entdeckten und begeisterten uns in der Natur für vieles Interessante. Da wir bei den Fischen keinen Erfolg hatten, verlegten wir uns auf die Kaulquappen. Mit der Zeit wurde uns auch das zu langweilig und mein Mitschüler hatte eine neue Idee. Er wuss-te, wie man mit Weidenholz eine Wassermühle bauen konnte. Damit hatten wir viel Spaß an diesem herrlichen Sommertag und beachteten gar nicht die Zeit. Plötzlich fiel uns wieder ein, was uns überhaupt auf diesen Weg verschlagen hatte. Jetzt mussten wir uns sputen, damit wir den Lehrer des Nachbarortes vor Schulschluss noch antrafen. Gott sei Dank, er war gerade im Begriff das Schulgebäude abzuschließen. Mit den gewünschten Unterlagen kamen wir schließlich wieder in unserer eigenen Schule an. Fünf Stunden waren verstrichen. Alle anderen befanden sich schon längst auf dem Heimweg. Das Fräulein empfing uns mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sie war einerseits froh, dass uns auf dem Weg nichts zugestoßen war, aber andererseits auch verärgert. Eine Strafe blieb uns jedoch glücklicherweise erspart.