Wie ich den Wiederaufbau erlebte

Luzia Hütter, Stadtkyll

Es war im Sommer 1945, der Krieg war zu Ende. Mein Vater kam per Anhalter nach Oberölfen im Westerwald, um meine Mutter, meine beiden Brüder und mich aus der Evakuierung zu holen. Er hatte uns im September 1944 dort hin gebracht, um der schlimmsten Zeit der Bombenangriffe in Stadtkyll nahe der belgischen Grenze zu entgehen. Der Vater musste im Krieg bei den Bayerischen Motorenwerken in München als Prüfer arbeiten. Er baute in Oberölfen aus Brettern und Fahrradreifen einen Wagen, damit wir unser weniges Hab und Gut mit nach Hause nehmen konnten. Wir machten uns in früher Morgenstunde auf den Weg nach Oberdollendorf bei Königswinter, wo eine Schwester meines Vaters eine Metzgerei hatte. Mutter und Vater fuhren den Wagen, meine Brüder schoben mich knapp Fünfjährige in einem alten Kinderwagen, einmal landete ich im Straßengraben. Es war eine Strecke von 40 Kilometern, die wir zu bewältigen hatten. Immer wieder brachen die Speichen der Räder, und Vater musste wieder reparieren. Es wurde Abend, als wir endlich ankamen. Wir durften uns einige Tage dort von den Strapazen des langen Marsches erholen.

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Das völlig zerstörte Stadtkyll 1947 aufgenommen von der Prümer Straße, Links die französische Trikolore.

Foto: Sammlung Hoffmann-Seufert

Dann kam aus Stadtkyll der Fuhrunternehmer Michel Schröder mit einem Holzgaslaster, um uns in die Heimat zu bringen. Dort angekommen, bot sich uns ein Bild des Grauens. Bombentrichter, zerstörte Häuser, Trümmerreste und Menschen, die mit dem Aufräumen beschäftigt waren. Stadtkyll war zum größten Teil zerstört. Zu unserem Glück standen unser Haus und die angrenzende Schreinerei meines Vaters bis auf einige zu Bruch gegangene Fensterscheiben noch. Vater machte den Betrieb sofort wieder auf. Er stellte Gesellen ein und bildete Lehrlinge aus. Es gab sehr viel zu tun, um den Menschen in den weniger beschädigten Häusern das Wohnen zu ermöglichen.

Da es keine Beschläge für Fenster und Türen zu kaufen gab, fuhr der Vater mit dem ältesten Bruder mit dem Zug nach Bonn, um Butter, Eier und andere Lebensmittel gegen Beschläge ein zu tauschen. Ein großes Problem war es, dass die Leute nur wenig Geld hatten, um die Schreinerarbeiten zu bezahlen. Oft brachten sie 20 oder 30 DM in der Woche. Der Vater musste Geld am Wochenende leihen, um damit die Gesellen zu bezahlen. Wer einige Äcker und Wiesen hatte, konnte sich ein oder zwei Kühe halten. Diese lieferten Milch. Morgens und abends wurde die Milch in einer Zentrifuge vom Schmand getrennt und daraus wurde Butter gemacht. Mein Vater hatte aus Holz ein hohes But-terfass mit einem Stampfer gebaut. Wenn genug Schmand zusammengekommen war, musste ich daraus die Butter stampfen. Inzwischen hatten wir auch einige Hühner aus Küken gezüchtet, und hatten somit immer frische Eier. In den Gärten an der Kyll wurden die Bombentrichter zugeschüttet und es konnte wieder gesät werden. Wir hatten noch eine große mit Naturhecken eingezäunte Wiese, der so genannte „Pesch". Dort standen Apfelbäume und wurden Kartoffeln gesetzt. Ende Oktober wurden diese geerntet und wir Kinder hatten beim Aufheben eisige Finger. Der Vater säte Hafer und Roggen. Wenn die Frucht im Herbst reif war, mähte er früh morgens alles mit der Sense, band es zu Garben und stellte es gegeneinander zum Trocknen auf. Dann brachte er das Getreide zu Karl Wiesen, der eine Dreschmaschine hatte. Die Haferkörner wurden zu Herrn Krämer in die alte Mühle gebracht und zu Haferflocken gemahlen. Die Mühle wurde mit Wasser aus dem Mühlenteich angetrieben, eine Abzweigung der Kyll. Diese wurde später zugeschüttet. Heute befindet sich „Hildes Futterhäuschen" an der Stelle. Da wir selbst Milch und Haferflocken hatten, gab es jeden Abend Haferflockensuppe. Wir Kinder nannten sie „Spes-szopp", weil sich an den Haferflocken immer noch Schalenreste befanden. Der Roggen wurde auf dem Speicher in großen Holzkisten mit kleinmaschigem Drahtdeckel gelagert, damit keine Mäuse hineinkamen. Der Roggen wurde gemahlen und daraus wurde Brot im großen Backofen beim Opa gebacken. Jedes Frühjahr kaufte der Vater ein kleines Schwein. Es wurde gemästet und im Winter geschlachtet. So konnten wir uns mit vielen Nahrungsmitteln selbst versorgen.

Im Ort sah man von Woche zu Woche Fortschritte. Aus Trümmersteinen wurden wieder Häuser gebaut. Es kamen des öfteren Väter oder Söhne aus der Gefangenschaft nach Hause. Dies war eine große Freude für alle, aber es gab auch oft die traurige Nachricht von Gefallenen oder Ver-missten. Kinder spielten mit Munition, sie waren sich der tödlichen Gefahr nicht bewus-st, in der sie schwebten. Einige mussten ihr junges Leben lassen, andere blieben verstümmelt zurück. Der Krieg hatte viele Wunden sowie Witwen und Waisen hinterlassen.

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Meister Dahm mit Lehrjungen, Gesellen und Nachbachskindern vor der Werkstatt (1949)