„Oose Päsch" Gisela Bender, Deudesfeld Jedes Jahr, wenn die Natur erwacht und die Wiesen allmählich anfangen grün zu werden, schweifen meine Gedanken in die bäuerliche Lebenswelt meiner Kindheit zurück. Sämtliche Familien in unserem 400-Seelen-Dorf waren von der Landwirtschaft abhängig. Alle lebten sie, die Menschen und auch das Vieh, vom Ertrag, den ein paar Felder und Wiesen hergaben. Gab es ein gutes Erntejahr, so war die Versorgung gesichert, war das nicht so, dann musste der Brotkorb im Haus und der Haferkorb im Stall höher gehängt werden. Mensch und Tier mussten sich der gegebenen Situation anpassen. Der Winter war immer zu lang und die Futtervorräte reichten nicht. Auf der Scheune wurde der Heuhaufen, trotz spärlicher Inanspruchnahme, von Tag zu Tag kleiner. Die Rübenmieten waren leer, auf dem Speicher lagen gerade noch so viele Körner wie für die Aussaat gebraucht wurden. In allen Ställen im Dorf brüllte das Vieh. Einige Frauen gingen täglich, eine „Reetz" auf dem Rücken, in den Wald zum „Krauden". Das hieß, sie schnitten mit einer Sichel in den Schneisen und an den Wegrändern das Gras und trugen es in dem Rückenkorb nach Hause. Andere gingen ins Wiesental Disteln stechen. Diese wurden im Viehkessel mit Heusamen und Strohhäckseln gekocht und dem Vieh in die Tröge geschüttet; es füllte wenigstens den Magen auf. Uns blieb das Krauden und das Disteln stechen erspart, wir hatten - unseren Päsch. Diese kleine Wiese, etwa einen halben Morgen groß, lag hinter den Gebäuden, windgeschützt und immer feucht. Um dorthin zu kommen, musste man durch den Schuppen, über eine halsbrecherische Treppe hinunter durch den Garten. Die Treppenstiegen bestanden aus aufeinander gestapelten Steinen, die rechts und links verrutscht waren. Bis heute kann ich es nicht fassen, dass wir Kinder uns dort keine Knochen gebrochen haben. In dem Päsch wuchs jedenfalls schon das Gras, da waren die übrigen Wiesen auf der Flur noch nicht richtig grün. Dementsprechend früh konnte der erste Schnitt geerntet werden. Unser Vater mähte mit der Sense jedes Mal soviel, dass es für eine magere Mahlzeit reichte. Wir Kinder mussten das Gras dann mit Körben hochtragen. Eigens dafür wurden beim Korbmacher zwei kleine Exemplare angefertigt. Um schneller fertig zu werden, luden wir trotzdem schwerer als wir tragen konnten. Auf der schiefen Treppe mussten wir uns wirklich abschinden, um die Balance halten zu können. Eine Sträflingsarbeit, wie mein Bruder sie betitelte. Von frühester Kindheit an waren ihm die Arbeiten in der Landwirtschaft ein Gräuel und immer mit Maulen und Gezeter seinerseits verbunden. Ja sehr oft flossen bei ihm auch die Tränen. Jedes Mal schlug er eine Ersatzlösung vor; Fichten solle der Vater hineinsetzen, war eine davon. Laut prophezeite er, dass er dies sofort tun werde, sobald er das „Sagen" hätte. Der Gedanke, dass wir dank des fruchtbaren Päschs keine Disteln stechen mussten, kam ihm wohl nie. Wenn ein paar Meter Gras abgeerntet waren, wurden einige Handvoll Grünkorn (Dünger) gesät, um das Wachstum noch zu fördern. So schlugen wir uns bis Anfang Mai durch, dann konnten die Kühe auf die Weide. Zwei -drei Wochen waren wir dann vom Grastragen befreit. Waren die ersten Gräser abgeweidet, dann war wieder ein Schnitt im Päsch fällig. In diesem Rhythmus ging es weiter, Jahr für Jahr, bis wir dem Kindesalter entwachsen waren. Wie nicht anders zu erwarten war, trennten sich nun unsere Wege. Mein Bruder kehrte dem bäuerlichen und dem dörflichen Leben den Rücken. Stall und Wirtschaftsgebäude wurden abgerissen. Das Elternhaus richtete er sich als Wochen-end- und Feriendomizil ein. Dem guten Päsch ließ er ange-deihen, was er ihm als Kind schon prophezeit hatte. Als erste Maßnahme pflanzte er eine Fichtenhecke, andere Hecken und Sträucher folgten, Obst-und Nussbäume. Darüber hinaus sollte alles naturbelassen wachsen und gedeihen. Nach Jahr und Tag muss mein Bruder wohl zu der Erkenntnis gelangt sein, dass ihm die „Fichten" über den Kopf gewachsen waren. Von dem fruchtbaren Päsch war nichts mehr zu sehen. Eine Wildnis war hier entstanden. Jetzt wird er rekultiviert. Alles Gehölz wird abgesägt, anstatt des Grases, wie zu unserer Kinderzeit muss jetzt Holz und Reisig hochgeschleppt werden. Natürlich von anderen Leuten, soviel hat sich verändert, mein Bruder selbst braucht diese Strapazen nicht mehr auf sich zu nehmen. Während ich da stehe und dem Geschehen zuschaue, sehe ich im Geiste das frisch geschnittene Gras von damals da liegen. Ganz sachte verspüre ich, wie ein wohltuendes und zugleich vertrautes Gefühl sich meiner bemächtigt. Ich spüre die Freude von damals wieder in mir, als ich das saftige Gras durch die Futterlöcher den wartenden Tieren geben konnte. Dieses Gefühl, unser Vieh versorgt zu wissen, erfüllte mich mit einer tiefen Zufriedenheit. Genau das war es auch, warum ich die Arbeit anders empfand als mein Bruder. Es sind die Gene, die tiefe Verbundenheit mit der bäuerlichen Lebenswelt - aber das versteht nicht jeder. |