Durchs Rosentälchen

Hildegard Kohnen, Brühl

„Wie weit ist es nach Klausen", fragte ich, als meine Großmutter mir die Legenden, die sich um die Wallfahrtskirche rankten, erzählt hatte. Erschöpft vom Reden lag sie in den hoch aufgetürmten Kissen und lächelte mich mit jenem hinreißenden Lächeln an, das nur Großmüttern zu Eigen ist.

„Fünf Rosenkränze lang dauert der Hinweg, dazu kommen die Litaneien und Marien-Lieder" zählte sie auf, breitete die Arme aus und sang mit zittrigem Sopran: Maria breit' den Mantel aus. Nur die erste Zeile, zu mehr reichte die Kraft nicht. Sie war eine große Muttergottes Verehrerin. Ich saß an ihrem Bett und hätte gerne mitgesungen, kannte aber das Lied nicht. Wir lebten erst kurze Zeit auf dem Land, waren vor dem Krieg zu den Großeltern geflüchtet.

Großmutter war das Herzstück in unserer Familie, während die anderen bei der Ernte waren, leistete ihr immer jemand Gesellschaft. Seit der Geburt ihres zehnten Kindes, vor über zwanzig Jahren, war sie bettlägerig krank.

Über den Rückweg verlor sie kein Wort, und ich traute mich nicht, sie danach zu fragen. Einen Weg in Rosenkränzen zu messen, kam mir seltsam, ja bescheuert vor. Aber, das behielt ich für mich, weil ich gerade erst dabei war, meine Großmutter näher kennen zu lernen. Bisher hatten wir stets nur die Ferien hier verbracht.

Von der Stadt her, an die Straßenbahn gewohnt, mus-ste hier jede Entfernung zu Fuß überwunden werden. Ins nahe Kreisstädtchen lief man anderthalb Stunden. Zum Bahnhof im Nachbardorf dauerte es über eine Stunde, es sei denn Großvater spannte die Ochsen an. Aber das geschah nur in Ausnahmefällen. Das fußlahme Stadtkind fand die Abgeschiedenheit des kleinen Dorfes schrecklich und geizte mit jedem Meter. Mit rätselhafter Miene sagte Großmutter: „Nach deiner ersten Wallfahrt, wirst du mir recht geben, dass es gar nicht weit ist." Sie atmete angestrengt und flüsterte: „Und der schönste Weg führt durchs Rosentälchen, wo im Frühling die Muttergottesröschen blühen."

„Rosentälchen? Muttergottesröschen?", wunderte ich mich.

„Ja, der Weg führt durch ein Tal zur Muttergottes nach Klausen und wird rechts und links von Rosenhecken umsäumt. Deshalb heißen auch die Heckenrosen hier Muttergottesblümchen. Sie duften betörend und benebeln dir die Sinne, dass du glaubst, schon im Himmel zu sein." Sie schickte ihren Worten einen so hingebungsvollen Seufzer hinterher, als ginge sie in Gedanken gerade den beschriebenen Weg. Dann lag sie eine ganze Weile still und hielt die Augen geschlossen. Silbrige widerspenstige Löckchen hatten sich vorwitzig aus dem Zopf gelöst und umrahmten ihre Stirn. Trotz der Falten, die wie feine Risse in einer Porzellanschale kreuz und quer über ihr Gesicht liefen, schaute sie wunderschön aus. Mit den Erzählungen hatte meine Großmutter mich so unsagbar neugierig gemacht, dass ich die erste Wallfahrt kaum erwarten konnte. „Zuerst muss mal gestorben werden" klärte meine ältere Schwester mich auf. Der Anlass zu pilgern war also immer ein trauriger. In unserem Dorf war es Sitte, für jeden Verstorbenen nach Klausen zu pilgern. In der Gnadenkapelle der schmerzhaften Mutter wurde für deren Seelenheil gebetet, Kraft und Trost für sich selbst oder seine Lieben erfleht und für erfahrene Hilfe gedankt. Dass es zugleich eine willkommene Abwechslung im dörflichen Alltag bot, stand auf einem anderen Blatt. Außer Beten, Singen und mitten in der Woche „Kuchen satt", lockten die Krambuden vor der Kirche. Sie waren für die Kinder ein unwiderstehlicher Anziehungspunkt und für manche der Hauptgrund, überhaupt mitzugehen. Meine Großmutter war richtig ins Schwärmen geraten: „Gebetbücher, Rosenkränze, Kerzen mit Gnadenbildern, Liebesperlen in klitzekleinen Nuckelflaschen die schmerzhafte Mutter unter Glas, die, gut geschüttelt, auch mitten im Sommer, im Schnee versinkt werden dort feilgeboten und, sie kicherte wie ein junges Mädchen, schrillbunte Zuckerpfeifchen, die selbst halb gelutscht noch gehörigen Krach machen. Allein deshalb, und nicht nur für die Kleinen, stehen sie hoch im Kurs."

Gebannt hing ich an ihren Lippen und erfuhr auch, dass der Tod keine Jahreszeit kannte, und darum das ganze Jahr hindurch nach Klausen gepilgert wurde. Nicht Regen noch Schnee, und der Krieg schon gar nicht, vermochten eine Wallfahrt zu verhindern. Kamen tief fliegende Jabos, löste sich die Prozession im Windumdrehen auf. Die Pilger flüchteten in den nahen Wald, um im Schutz der Bäume auszuharren, bis die Luft wieder rein war. Das Vertrauen auf die Muttergottes, zu der man ging, oder von der man kam, war unerschütterlich. Sie hatte bisher die Gläubigen immer gut beschützt und nie im Stich gelassen.

Mit der Familie des Verstorbenen gingen Verwandte, Bekannte, Nachbarn und wer Zeit hatte. Im Sommer waren es, wegen der Feldarbeit, weniger Pilger aber die Prozessionen wurden durch den Krieg häufiger. Kriegstribut nannte Großvater es. Ich verstand nicht, was er damit meinte, fand aber das Wort allein schon großartig, dass ich es dabei bewenden ließ. Der dörfliche Kuchenkoffer, der von Trauerhaus zu Trauerhaus wanderte, gehörte zu den wichtigsten Requisiten einer Wallfahrt. In ihm wurden außer Kuchen und Kaffeebohnen, für die Kaffeetafel, auch Trostflaschen mit heimischem Trester transportiert. Er wurde auf ein Fahrrad geschnallt, das von einem der Männer geschoben wurde. Bei meiner ersten Wallfahrt trug der Sommer sein schönstes Kleid. Sie führte über Straßen, rechts und links vom Wald umgeben, vorbei an Wiesen und Feldern durchs Rosentälchen.

Der Weg endete in einem kleinen Dorf vor dem Wallfahrtsort. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung. Der Turm der Gnadenkirche ragte weit ins Land.

Vor dem Ort wurde das Lied „Meerstern, ich dich grüße" angestimmt, und mitten im Dorf sang die Prozession: „... Oh Maria, hilf uns all, hier in diesem Jammertal." Wie von Geisterhand schlossen sich alle offenen Fenster. Es war ein armes Dorf mit stolzen Bürgern, die das Jammertal ziemlich persönlich nahmen. Dabei bezog es sich, hatte Großmutter berichtet, auf den steilen Anstieg zur Wallfahrtskirche, der für müde Pilger mit schmerzenden Füßen recht mühsam war. Tief beeindruckt sah ich zum ersten Mal Menschen auf blutig gescheuerten Knien zur Gnadenkirche rutschen, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen.

In der prachtvollen, und im Sommer angenehm kühlen Kirche angekommen, gingen wir zuerst zur Gnadenkapelle der schmerzhaften Mutter, um für das Seelenheil der gerade Verstorbenen zu bitten. Danach betete jeder für sich. Der Krieg hatte Sorgen und Leid im Überfluss in fast jedes Haus gebracht. Zahllose Tafeln und Krücken bekundeten Wunder, sagten aus, wie oft Maria in Not und Krankheit geholfen hatte. Wie gern hätte ich ein Täfelchen für meine Großmutter hinzugefügt. Trotz aller Bitten, bei den zahlreichen Pilgergängen in meinem Kinderleben, blieb sie krank. Manchmal, fand ich Gott ungerecht und grausam. Nach stundenlangem Singen und Beten, über staubige Wege, war es nicht einfach, während der dann folgenden staubtrockenen Andacht andächtig zu bleiben. Ich kämpfte gegen die Müdigkeit und verlor, schlief tief und fest und keiner weckte mich auf.

Eine durstige Kehle und ein laut knurrender Kindermagen sind selten gute Fürbitter. Der göttliche Kinderfreund musste da ein Einsehen haben. Durch das Schläfchen gestärkt und erfrischt, war ich hinterher wieder hellwach, denn in der Pilgerklause wartete eine Kaffeetafel. Bald schon lockerte sich die Stimmung, denn die Erwachsenen kümmerten sich jetzt um Trösterchen in Flaschen, Marke Eigenbrand. „Um die Gelenke zu schmieren", versicherten die Frauen, nippten verlegen am Glas, schüttelten und zierten sich ein wenig. „Um die Schnüss zu lockern", zwinkerten die Männer mit blanken Augen, während sie leicht locker dem hochprozentigen Wunderwasser zusprachen!

Dieweil die Großen mit so Wichtigem beschäftigt waren, durften wir Kinder endlich zu den Buden. Großmutter hatte nicht zu viel versprochen, nein, sie hatte sogar das Allerbeste vergessen, nämlich die Lebkuchenherzen. An bunten Bändern hingen sie in allen Größen. In schwungvoller Zuckerguss-Schrift las ich: Auf ewig dein - Mein bester Schatz - Ich liebe dich - Ver-giss mich nicht. Ich biss mir an „Auf ewig dein" fast einen Zahn aus, so knochenhart war das Ding. Vorkriegsware! Lange genug durchgekaut hatte, wurde es butterweich und schmeckte wie die Weihnachtsplätzchen, die Tante Anna uns immer im August mitbrachte, zart nach Mottenpulver. Bis auf den letzten Pfennig schlug ich mein mühsam erspartes Geld auf den Kopf. Großmutter brachte ich ein giftgrünes Zuckerpfeifchen mit. Sie freute sich riesig und pfiff so laut damit, dass die Familie erschrocken ins Zimmer lief. Es gab ein Riesengelächter.

Jeden Groschen habe ich als Kind gehortet, um ihn in Klausen gegen diese wunderbar nichtigen Kinderwonnen einzutauschen.Die jungen Mädchen im heiratsfähigen Alter, hatten sich derweil klammheimlich zum heiligen Kommholmich verzogen, wie der Ritter von Es-ch im Volksmund heißt, um an der Bampelbux zu ziehen. Ich wollte wissen, was es mit diesem seltsamen Heiligen auf sich hatte, wurde aber verscheucht. Diese blöden Mädchen hielten zusammen wie Pech und Schwefel -nichts war zu erfahren. Zu Hause bestürmte ich meine Mutter, warum, wie, wo und was das Kratzen, Schaben und Ziehen an der Bampelbux bedeutete. Sie schüttelte lachend den Kopf und meinte abwehrend: „Es gibt im Leben ein paar Dinge, die ein so winziges Mädchen wie du, noch nicht zu wissen braucht." Dann tuschelte sie mit meiner Tante. Ich wusste genau, wenn Erwachsene tuschelten lag was im Busch. Aber so sehr ich auch die Ohren spitzte. Nix erfuhr ich.

Für meine Mutter war damit die Sache erledigt. Für mich nicht. Winzig hatte sie mich genannt, empörte ich mich. Ich war stolze Sieben und hatte durch den Krieg schon Schlimmes erlebt! Alles fragen nutzte nichts. Bei solchen Sachen hielten die Erwachsenen ekelhaft dicht. Also rätselte ich weiter. Meine Phantasie muss dabei ziemlich ins Kraut geschossen sein. Allein schon der Name! Jedenfalls gehörte die Bampelbux zu einem der ungezählten Tabus meines Kinderlebens. Später löste sich das Rätsel von allein. Die Mädchen, aber längst nicht alle, berührten und berühren noch immer, den Ritter an seiner edelsten Stelle, um sich so einen Ehemann zu erflehen. Hinterher stifteten sie und stiften noch immer, aber längst nicht alle, der Muttergottes eine Kerze, weil doppelt genäht besser hält.

Doch - nicht jede Bitte konnte und kann der Kommholmich erhören. Vielleicht haben einige auch einfach zu heftig gezogen. Denn nur an dieser einen, ganz gewissen Stelle, ist der Ritter von Esch arg zerkratzt und abgeschabt... Ich habe nie an der Bampelbux gezogen und trotzdem..., aber das wäre eine andere Geschichte. Der Rückweg der Prozessionen dauerte zwei Rosenkränze lang und kam mir, nicht nur deshalb, viel kürzer vor. Denn jetzt hatte das Dorfgeschehen Vorrang. Es störte weder die Toten, noch tat es der Frömmigkeit Abbruch und war sehr spannend. Der Dorfklatsch gehörte zum Pilgern, wie Beten, Singen, Kaffeetrinken, Schnäpseln und Budenstürmen! Jetzt verstand ich, was meine Großmutter mit den zweierlei Wegen gemeint hatte. Nach dieser ersten Wallfahrt war ich so begeistert, dass ich keinen Pilgergang mehr ausließ und sogar mit ungekoch-ten Erbsen in den dünn besohlten Kriegsschuhen mitgegangen wäre.

Dass auch heute noch, wenn die Pilger kommen und lautstark beten: „Maria zu dir kommen wir", die Klau-sener in ihren Häusern schmunzelnd antworten sollen: „ Eure Groschen kriegen wir", und wenn die Pilger auf dem Heimweg beten: „Maria von dir scheiden wir", sie sich händereibend freuen: „Eure Groschen haben wir", gilt als Volksmär. Es spräche aber durchaus für ihre Geschäftstüchtigkeit und weder der liebe Gott,noch irgendein Pilger hätten was dagegen.

Spätere Wallfahrten aus der Kreisstadt mit meinen Klassenkameradinnen, selbstgemachter Brause, ehrwürdigen Ursulinenschwestern, belegten Broten und Kartoffelsalat mit hartgekochten Eiern, waren trotz der noch immer heißbegehrten Zuckerpfeifchen nicht mit den unvergesslichen Pilgergängen meiner frühen Kindheit zu vergleichen. Noch einmal möchte ich den kleinen Wallfahrtsort mit der hoch am Berg stehenden, weit ins Land sichtbarer Kirche mit den Krambuden zu ihren Füßen, besuchen - in der Pilgerklause Kaffee trinken - anschließend die Buden stürmen - in Erwachsenenschuhen auf Kindheitspfaden wandeln.