Jakob und Isidor Tamara Retterath, Lirstal ![]() An einem kalten und nassen Novembertag in den Nachkriegsjahren kam ich eines Tages nach einem langen Fußmarsch von der Volksschule nach Hause. Als ich die Haustüre öffnete und eintrat, hörte ich aus der guten Stube gedämpft fremde Stimmen. War unerwartet Besuch gekommen, fragte ich mich. Besuch war für uns Kinder in unserem Alltag immer aufregend und etwas Besonderes. Waren es vielleicht Verwandte? Wenn Onkel Theodor uns besuchte, brachte er immer einige Bonbons für mich mit. Vorfreude begleitete mich, als ich neugierig die Zimmertür öffnete. Auf dem Kanapee saßen zwei Männer zwischen 50 und 60 Jahren, vertieft in ein angeregtes Gespräch mit meinen Eltern und meiner Großmutter. Etwas enttäuscht stellte ich fest, dass ich die beiden Herren nicht kannte. Mein höfliches „Guten Tag" ließ die beiden Besucher ihr Gespräch kurz unterbrechen. Ich wollte den Herren gerade die Hand zum Gruß reichen, als meine Großmutter mir mit ihrer Aufforderung „Bub! Jetzt gib dem Besuch mal dein Händchen" zuvorkam. Wie peinlich das war! Ich lief rot im Gesicht an. Schließlich war ich alt genug und wusste, wie man sich begrüßte! Fehlte bloß noch, dass sie mich ermahnte „Und denk daran, das „schöne" Händchen zu geben, und nicht das böse." Zum Glück blieb mir wenigstens diese Peinlichkeit erspart. Mit einem angedeuteten Diener und einem Händeschütteln vollendete ich die Begrüßung. Die beiden Herren erlaubten mir, sie mit ihrem Vornamen ansprechen zu dürfen. Sie hießen Jakob und Isidor. „Hätten wir nur gewusst, dass ihr Kinder habt, dann hätten wir doch einige Bonbons mitgebracht! Schade!" bedauerte einer der beiden. Der andere nickte zustimmend. Als sie sich vom Sofa erhoben, fiel mir auf, wie klein die beiden Erwachsenen waren. Mutter hatte inzwischen das Mittagessen bereitet und bat zu Tisch. Während des Essens erfuhr ich nach und nach, dass die beiden Männer Brüder waren. Vor dem Krieg hatten sie eine sehr große Landwirtschaft im Maifeld besessen. Dort hatte mein Vater in jungen Jahren als Knecht gearbeitet. In der Nazizeit waren sie durch das Hitlerregime unrechtmäßig enteignet und vertrieben worden. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigrierten sie dann nach Amerika, wo sie es geschafft hatten, sich wiederum eine große Farm aufzubauen. Nun war der Krieg endlich vorbei, und die Beiden nutzen die Gelegenheit für einen Deutschlandbesuch, um sich ihr Anwesen wieder rückübertragen zu lassen. Hierzu hatten sie bereits den behördlichen Antrag gestellt. Die Landwirtschaft in Deutschland wollten sie verkaufen, denn sie hatten sich inzwischen in Amerika sehr gut eingelebt und wollten ihre große Farm nicht lange missen. Da sie Vater von früher her kannten, waren sie spontan auf die Idee gekommen, ihm während ihres Deutschlandaufenthalts einen Kurzbesuch abzustatten. So war es für meine Eltern wirklich eine unerwartete Überraschung, als die beiden Besucher an unsere Haustüre geklopft hatten. „Hm, Sie können wirklich vorzüglich kochen", lobte Isi-dor meine Mutter, als er mampfend die dampfenden Knödel verzehrte. „Und das Fleisch erst! Sehr schmackhaft!", erwähnte auch Jakob kauend. Nach der langen Reise aus Amerika mussten sie sehr hungrig sein, dachte ich, während Isidor noch einmal nachlegte. Mutter war froh, dass es beiden so gut schmeckte, war es für sie gar nicht einfach gewesen, so schnell noch für weitere zwei Personen ein schmackhaftes Essen auf den Tisch zu zaubern. Nach dem Mittagessen zeigte Vater Jakob und Isidor unseren kleinen Bauernhof und führte sie auch in unseren Stall, um ihnen die drei Milchkühe und zwei Schweine zu zeigen. Ein paar Hühner gackerten auf dem Hof herum, und der Hahn krähte lauthals. „Sehr schön", meinten die Brüder hierzu. „Das ist natürlich mit unserem Anwesen in Amerika nicht vergleichbar", erwähnte Jakob, während Isidor weiter erklärte: „Auf unserer Farm halten wir alleine 500 Rinder. Die Größe der Agrarfläche, die wir dort landwirtschaftlich bewirtschaften, kann man sich hier in Deutschland gar nicht vorstellen." Vater hatte daran keinen Zweifel, denn die beiden Brüder waren bereits vor dem Krieg in Deutschland sehr reich gewesen. Reiche Landwirte nannte man in unserer Gegend „dicke Bauern". Und Jakob und Isidor waren eben dicke Bauern. An diesem Nachmittag fielen die ersten Schneeflocken dieses Winters. Bei der Brotzeit dampfte der Malz-Kaffee in der schön geheizten Küche. Alle genossen die dick belegten Schinken- und Wurstbrote. Auch Jakob und Isidor ließen es sich gut schmecken. Erst letzte Woche hatten wir geschlachtet, daher waren die Fleisch- und Wurstwaren besonders frisch und lecker. Während Jakob genüsslich in die Wurst biss, fiel ihm auf, dass es bereits langsam aber sicher dunkel wurde. „Bis in die Kreisstadt schaffen wir es heute nicht mehr. Vielleicht ist es möglich, hier zu übernachten", fragte er. „Ja, selbstverständlich", bot Vater gastfreundlich an und auch Mutter nickte zustimmend. Isidor überlegte weiter: „Für Samstag haben wir die Überfahrt mit dem Schiff zurück nach Amerika geplant. Wäre es in Ordnung, wenn wir hier bei euch bleiben? Es sind ja nur drei Tage." - „Ja, das geht schon. Ihr könnt beide im Gästezimmer schlafen", erklärten die Eltern. Vater kannte die beiden schließlich von früher. Unsere Familie war arm, aber man konnte den beiden Gästen schwerlich absagen und man würde sie die wenigen Tage schon versorgen können. So setzten sich Jakob und Isidor nach der Brotzeit an den warmen Ofen, kramten ihre Pfeifen heraus, stopften sie sorgfältig und rauchten diese mit Genuss. Kleine Rauchwölkchen stiegen aus ihren Pfeifen und verteilten sich im Raum. Ich hörte gespannt zu, was sie aus dem fernen Land Amerika und von ihrer riesigen Farm berichteten. Die beiden Brüder genossen die Tage bei uns sehr. Sie machten es sich meistens im Sessel in der Nähe des Ofens gemütlich und ließen sich Mutters einfache, aber gute Mahlzeiten schmecken. Ich wunderte mich, wie viel sie verdrücken konnten, obwohl sie nicht wie Vater körperlich arbeiteten. Die drei Tage vergingen und bald war der Samstagmorgen, der Tag der Abreise Richtung Amerika da. Die ganze Familie frühstückte noch einmal mit Jakob und Isidor. Und als Isidor die Gabel mit Rührei mit der einen Hand in den Mund schob und mit Hilfe der anderen in das Schinkenbrot biss, fiel ihm etwas ein. Es schien sehr wichtig zu sein, denn seine Augen wurden groß und während er kaute, schubste er Jakob an. „Du Jakob", sagte er, „heute ist ja Schabbes!!" Ich hatte diesen Ausdruck noch nie zuvor gehört und konnte mir auch nichts darunter vorstellen. Doch Jakob schien genau zu wissen, worum es ging. „Ja stimmt! Mensch, gut, dass du daran gedacht hast. Heute an Schabbes dürfen wir gar nicht verreisen!" Es stellte sich heraus, dass Schabbes Sabbat hieß. Eine Abreise an diesem Tag war unmöglich. Daher wurde beschlossen, erst am kommenden Montag nach Amerika abzureisen. Somit verbrachten sie zwei weitere Tage zusätzlich, den Samstag und den Sonntag, bei uns. Während es draußen winterlich war, machten Jakob und Isidor es sich wieder in den Sesseln nahe am warmen Ofen gemütlich, pafften ihre Pfeifchen und fühlten sich weiterhin sehr wohl. Doch plötzlich ging ihnen der Tabak aus. Es war Schabbes, und die Beiden durften ja nicht einkaufen gehen! Da kam ihnen die Idee, dass der Bub - also ich - ihnen doch Tabak kaufen könnte. In unserem kleinen Ort gab es keinen Tante-Emma-Laden. Um Einkäufe zu erledigen, musste man ins zwei Kilometer entfernte Nachbardorf gehen. So zog mich Mutter warm an, denn draußen tobte ein stürmischer Wind. Dick eingepackt verließ ich mein Elternhaus, um den Auftrag unserer Gäste zu erledigen. Der Weg war für mich als kleines Kind weit und beschwerlich, denn inzwischen war Schnee gefallen, durch den ich knietief stapfen musste. An diesem kalten und stürmischen Wintertag blies mir der Wind eiskalt um die Ohren. Ich klappte den Kragen meiner Jacke hoch, um mein Gesicht ein wenig zu schützen, doch es half kaum. Auf halbem Weg fing es auch noch an zu hageln. Mein Gesicht schmerzte, wenn der Wind den Hagel knallhart darauf peitschte. Endlich erreichte ich erschöpft den Laden, wo ich die benötigten Rauchwaren für Jakob und Isidor einkaufte. Ich verstaute sie sicher in der Innenseite meiner Jacke, damit sie keinen Schaden durch die Nässe erlitten. Wehmütig warf ich noch einen letzten Blick auf die leckeren Süßigkeiten in dem Laden. Wie gerne hätte ich mir von dem Wechselgeld ein Bonbon gekauft, aber das schickte sich nicht! Das Wechselgeld gehörte Jakob und Isidor, und ich würde alles korrekt abliefern. So machte ich mich wieder auf den langen Rückweg. Unterwegs dachte ich noch einmal an die Bonbons. Wenn ich Jakob und Isidor den Tabak nachhause bringen würde, dann würden sie mir sicher ein paar Pfennige schenken, damit ich mir bei der nächsten Gelegenheit Süßigkeiten kaufen könnte. Der eisige Wind und der Hagel hörten auch auf dem Heimweg nicht auf, und ich kam völlig durchnässt zu Hause an. Unseren Gästen brachte ich sofort ihren Tabak und das Wechselgeld. Sogleich stopften sich die beiden Brüder ihre Porzellan-Pfeifen, zündeten sie an und rauchten sie genüsslich im Lehnstuhl. Die erhofften Pfennige für ein Bonbon erhielt ich nicht. Stattdessen sagten sie: „Wir werden uns dir gegenüber noch erkenntlich zeigen, genau wie deinen Eltern gegenüber auch." Jakob und Isidor genossen noch das Wochenende in unserer Familie. Dann kam der Montag und sie verabschiedeten sich mit den Worten „Wir werden uns erkenntlich zeigen." Sie gaben an, wieder in die Staaten zurück zu reisen. Wir winkten ihnen an unserer Haustüre zum Abschied noch nach. Einige Zeit später hatte meine Großmutter in der Kreisstadt verschiedene Erledigungen zu besorgen, und sie fuhr mit dem Bus nach Mayen. Unerwartet traf sie dort am Marktplatz auf zwei bekannte Herren. Sie traute ihren Augen kaum - das waren doch tatsächlich Jakob und Isidor, die sie eigentlich in Amerika gewähnt hatte. Die beiden Brüder begrüßten die Großmutter herzlich und erzählten, sie seien inzwischen in den Staaten gewesen und nochmals zurückgekommen. „In Amerika haben wir ein großes Paket für Ihre Familie gepackt. Zum Dank für Ihre wunderbare Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft!" erwähnte Isidor im Gespräch. Und Jakob ergänzte: „Wir haben schöne Sachen eingepackt, vor allen Dingen viel Kaffee! Und selbstverständlich haben wir auch an das Kind gedacht und eine große Tafel Schokolade dazugelegt!" Natürlich war bei uns die Freude groß, als Großmutter zu Hause davon berichtete. Gerade Kaffee war in der Nachkriegszeit ein unerschwinglicher Luxusartikel und für Schokolade traf dasselbe zu. Bei dem Wort „Schokolade" lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich freute mich riesig. Als kleiner Junge konnte ich es kaum erwarten, bis das Paket mit der versprochenen Schokolade eintreffen würde und wartete ungeduldig. „Wie lange brauchte ein Paket von Amerika nachDeutschland?", fragte ich Mutter fast jeden Tag. Ich wartete und wartete. - Auf das Paket warte ich bis heute... Als uns klar wurde, dass das Paket niemals eintreffen würde, war die Enttäuschung natürlich groß! - Wie man sich doch in Menschen täuschen kann! Wenn ich heute rückblickend an die beiden kleinwüchsigen Brüder denke, so fällt mir auf, dass bei ihnen das Sprichwort „Lügen haben kurze Beine." -im wortwörtlichen Sinne -tatsächlich zutraf. |