Die Holzmaarstraße in Gillenfeld

Ein Straßengesicht im Wandel der Zeit

Günter Schenk, Gillenfeld

Gut und gerne erinnere ich mich an meine Kindheit und Jugend in der Holzmaarstraße in Gillenfeld. 1950 geboren, waren es schöne Jugendjahre. Die unmittelbaren Nachkriegssorgen hatte man überstanden, doch alles war noch sehr bescheiden. Und das war gut so, wie wir heute wissen. Gillenfeld war noch ein richtiges Dorf und bäuerlich geprägt. Damals hieß die Holzmaarstraße auch noch nicht so. Es gab keine offiziellen Straßenbezeichnungen in Gillenfeld, und die Häuser waren von einem Ende des Ortes bis zum anderen durchnumme-riert. Man sprach vielmehr vom Ober- und Unterdorf, vom Hinterôllen, von der Holl, vom Brehlswääsch, vom Zeckelsôllen, von der Lunn und der Vorstadt. Die heutige Holzmaarstraße ist in etwa identisch mit dem, was man früher als Unterdorf bezeichnete.

Wenn sie auch keinen Namen hatte, so war die Straße damals etwas Besonderes. Eine richtige Allee war sie, mit einem Standard, den man üblicherweise in den Dörfern nicht kannte. So vermittelte die gepflasterte Fahrbahn eine gewisse Eleganz. Feines glattes Blaubasaltpflaster in Segmentbögen verlegt, fiel im Dachprofil zu gepflasterten Entwässerungsrinnen, die sich an schwere Basaltbordsteine lehnten.

Die sich anschließenden Bürgersteige hatten zwar nur eine wassergebundene Decke, aber dafür waren sie großzügig breit. Doch das Faszinierende waren die Bäume. In einem Abstand von rund zehn Meter säumten sie beidseits die Straße und vermittelten ihr den alleeartigen Charakter. Die Schwedische Mehlbeere (Sor-bus intermedia) war es, die man gepflanzt hatte. 1933 erlebte die Straße diesen stattlichen Ausbau. Vorher gab es mehr oder weniger nur eine geschotterte Trasse, die in der nassen Jahreszeit in Matsch und Schlamm versank. Warum wurde damals so mächtig in die Holzmaarstraße geklotzt? Wollte das aufstrebende „1000-jährige Reich" seinen Glanz auch in dieser Dorfstraße widerspiegeln? Beide wurden keine 1000 Jahre alt, doch hat die Straße das Reich überlebt. So kannte ich sie in meiner Kindheit; die Holzmaarstraße in ihrem natürlichen Charme. Die Bäume nun gute 20 Jahre alt, hatten sich ansehnlich entwickelt. Recht kräftige Stämme trugen ein etwas unproportionales Blätterdach. Das lag daran, dass die Kronen alle zwei Jahre in eine Art Kugelform zurück geschnitten wurden. Weißfilzig zeigten sich die Blätter beim Austrieb im Frühling, um dann um so mehr in einem dunklen Grün in der Sommersonne zu glänzen, bevor sie sich in einer gelben, braunen oder rot-orangen Robe im Herbst wieder verabschiedeten. Sie blühte auch, die Mehlbeere. Weiß, in breiten Schirmrispen, die sich im Spätsommer in rote Früchte verwandelten. Munteres Vogelgezwitscher ließ die dichten Kronen zum Konzertsaal werden, und so mancher Fink fand dort seinen Nistplatz. Doch nicht nur die Bäume vermittelten der Straße Leben. Damals war die Verkehrsdichte noch gering und der fließende Verkehr fast ausschließlich landwirtschaftlich geprägt; Fuhrwerke, die von Pferden, Kühen oder Ochsen bewegt wurden. So blieb Raum für Kommunikation und Spiel auf der Straße. Besonders im Frühjahr war richtig was los. Die breiten unbefestigten Bürgersteige boten die idealen Voraussetzungen für Klicker- oder Hüpfspiele. Versteckspiele wie „Räuber und Schandiz" oder „Stoppes" starteten meist auch von einer Straßenecke aus. Im Sommer suchte man Kühle im Schatten der Bäume, und die älteren Anwohner saßen oft den ganzen Tag dort. Nicht zu vergessen der Milchbock, bei dem die täglichen Neuigkeiten ausgetauscht wurden.

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„Die Holzmaarstraße in den 1960er Jahren"                                         Foto: Helga Zillgen, Gillenfeld

Als Kind dauerten Jahre noch eine Ewigkeit und so sehnte man sich nach einem unendlich langen Sommer dem Winter mit seinen speziellen Freuden entgegen. Den zeitlichen Prozess glaubte man in der kindlichen Naivität beschleunigen zu können, in dem man der Natur etwas nachhalf. Also wurden im nahen Weiden-pesch lange Ruten geschnitten, mit denen wir das herbstbunte Laub von den Straßenbäumen schlugen in der Hoffnung, dass die zu Boden taumelnden Blätter sich bald in dicke Schneeflocken verwandelten. Schickte uns Petrus endlich die weiße Pracht, wurde die Straße natürlich auch für die Freuden des Winters genutzt. Irgendwann in den 1950-er Jahren wurde die Fahrbahn der Holzmaarstraße mit einem Teerbelag überzogen. Der eigentliche Grund war fraglich, denn das Basaltpflaster lag noch akkurat und glatt. Vielleicht wollte man auch nur „modern" sein. Aber damit hatte die Straße ihre Eleganz verloren. Doch sie sollte noch mehr verlieren. Ende der 1960-er Jahre war ganz Gillenfeld eine Baustelle. Das Dorf wurde kanalisiert und an die neu gebaute Kläranlage angeschlossen. Von den alten Straßen blieb nicht viel übrig und so wurden sie neu gebaut. Gebaut im Geiste der Zeit. Damals unterlagen die Straßen- und Verkehrsplaner dem Trugschluss, dem zunehmenden Verkehr mit immer breiteren, zügigeren und schnelleren Straßen begegnen zu können. In Umsetzung dieser Philosophie musste so manches weg, was einem reibungslosen Verkehr im Wege stand. In Gillenfeld waren es die Bäume! Man hielt aber auch nichts dagegen. Die Anlieger waren froh, das leidige Laub nicht mehr fegen zu müssen, und die Gemeindeväter freuten sich der ersparten Kosten für das Schneiden der Bäume. Das alles entsprach dem damaligen Zeitgeist, in dem vieles an alten gewachsenen Strukturen in den Dörfern einer vermeintlich besseren „Moderne" weichen musste. Nun hatten wir neue Straßen und auch eine „schöne" neue und breite Holzmaarstraße.

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„Noch zart zeigt sich das junge „Grün" in der neu gestalteten Holzmaarstraße"

Kerzengerade war sie geworden. In einer technischen Meisterleistung hatten die Straßenbauer ihr jeden, aber auch den geringsten Radius genommen. Und übersichtlich war sie; kahl wäre besser formuliert. Dem öffentlichen Ab-holzungstrend hatten sich einige Anlieger noch angeschlossen und so präsentierte sich ein restlos versiegeltes Band; kalt, unfreundlich und leblos. Dahin war die frühere Wärme der Holzmaarstraße, deren Funktion nicht nur Verkehrsweg, sondern Bindeglied fast aller Lebensbeziehungen war. Gewichen einer grauen, fast feindlichen Atmosphäre die eindeutig das Auto beherrschte. Der individuelle Charakter der Holzmaarstraße war durch das Normwerk Straße ersetzt.

Das alles war nicht nur in der Holzmaarstraße und in Gillen-feld, sondern überall passiert. Und überall nahm nicht nur der Verkehr, sondern auch seine Geschwindigkeit zu. So setzten Ende der 1970-er Jahre die Forderungen nach Verkehrsberuhigung und Wohnumfeldverbesserung ein. Was war nun Zielsetzung dieser neuen Schlagworte? Die Straßen sollte wieder eine neue Funktionalität erhalten und diese Funktionalität sollte besser verteilt sein. Kommunikative Nutzungsformen, höhere Privilegien für Fußgänger, Radfahrer und Kinder sollten die Vormachtstellung der motorisierten Verkehrsteilnehmer brechen. Und die Straßen sollten wieder auf ihren Bedarf zugeschnitten sein, auf den Verkehr, der in die Straße gehörte. Natürlich musste und sollte der Kraftfahrzeugverkehr fließen, nur anders: ruhiger, ungefährlicher ohne hohe Abgas- und Lärmbelastungen. Und die Straßen sollten wieder, eingefügt in ihr Umfeld, städtebauliche Gesichtszüge tragen.

Dass eine solche Rosskur auch dringend der Holzmaarstraße zu verordnen sei, darin war man sich nach mehreren gemeindlichen Interventionen Anfang der 1990-er Jahre einig. Doch der noch nicht allzu schlechte technische Straßenzustand und die auch damals nicht üppigen Gelder ließen Umbauvorstellungen nicht zu. Erst im Jahre 2000 kam, nachdem die Wirtschaftsbetriebe der Verbandsgemeinde Daun umfassende Leitungseingriffe in der Holzmaarstraße ankündigten, Bewegung in die Sache. Ein gewaltig dimensionierter Staukanal ließ erkennen, dass in seinem Verlegeabschnitt nicht mehr viel Straße übrig bleiben würde. Mit den Ablösekosten der Verbandsgemeinde eröffnete sich dem Land als Straßenbaulastträger ein günstiges Finanzierungsmodell, so dass der komplette Neubau als einzig sinnvolle Reaktion bald beschlossene Sache war. Auch die Ortsgemeinde Gillenfeld schloss sich mit den in Ihrer Trägerschaft stehenden Gehwegen der Gemeinschaftsmaßnahme an. Am 25. März 2001 wurden Anliegern und Bürgern die Pläne für einen verkehrsberuhigten und ortsgestaltenden Ausbau der Holzmaarstraße vorgestellt. Nach einiger Diskussion wurde für den Abschnitt der Holzmaarstraße von der Alfbachbrücke bis einschließlich der Kreuzung Pulvermaar-/Brunnen-/ Schulstraße eine Planung mit einer reduzierten Fahrbahnbreite, mit Fahrbahnverschwenkungen, Überque-rungshilfen, Parkbuchten sowie einer Portion Ortsgestaltung im Form von gepflasterten Geh- und Parkflächen, optisch ansprechenden Straßenlampen und nicht zuletzt von Pflanzbeeten und Bäumen tragfähig. Tatsächlich sollten mit dem Neubau der Holzmaarstraße wieder Straßenbäume Einzug halten. Zwar nicht in der früheren al-leenhaften Form, aber doch in einer gewissen Kontinuität, die das vertikale Bild der Holzmaarstraße schon prägen sollte. Art und Umfang der grünordnerischen Maßnahmen waren Punkte einer speziellen Versammlung mit den Anliegern. Natürlich stand die Überlegung, an die Historie anzuknüpfen und die Holzmaarstraße wieder mit der Mehlbeere zu begrünen. Doch nach Abwägung entschied man sich für den Apfeldorn als neuen Straßenbaum. Bei dem Crataegus lavallei ‚Car-rierei', wie der Apfeldorn mit seinem botanischen Namen heißt, handelt es sich um einen robusten kleinen Baum 3. Ordnung, der sich als sehr trockenheitsresistent im Straßenraum bewährt hat. Gegenüber der Mehlbeere bleibt er von Natur aus kleiner und seine Krone ist kompakter, so dass aufständige Schnittmaßnahmen verzichtet werden kann. Sein im Sommer kräftig grün glänzendes Laub färbt sich im Herbst gelb-orange und haftet bis in den Dezember. Einer weiß-rosafarbenen Blüte im Mai folgen im August orangerote Früchte mit apfelähnlichem Aussehen, die die Krone bis in den Winter schmücken, wenn die Vögel sie nicht vorher vernascht haben. Denn das Bäumchen ist auch noch Vogelschutz- und Nährgehölz sowie Bienenweide und damit ein richtiger Tausendsassa. Ein ganzes Jahr benötigten die Bauarbeiten, ehe sich die Straße in dem geplanten Bild präsentieren konnte. Doch inzwischen sind die gewaltigen Gräben der Kanalbaumaßnahmen, das Lärmen der Baumaschinen, Umleitungsprobleme, Staub und Schmutz vergessen. Der Verkehr fließt wieder durch die Holzmaarstraße und über die in der Vollsperrungs-phase ebenfalls neu gebaute Alfbachbrücke. Auch die Bäume sind gepflanzt. Es gab zwar noch das ein oder andere Standortscharmützel, aber im Endeffekt konnten sich, dank einer kooperativen Anliegerschaft, doch alle behaupten.

Nun hat sie wieder ein neues Gesicht, die Holzmaarstraße. Geschwungen in der Linienführung, mit Pflanzinseln als Überquerungshilfen in der Straßenmitte, attraktiven Pflasterflächen, schicken Lampen, einer gelungenen Durchgrünung und sogar einem Straßencafe. Eine warme und angenehme Atmosphäre vermittelt sie wieder und das in einer noch nicht da gewesenen Form.

Unsere Vorfahren, die das frühere Gesicht der Holzmaarstraße kannten, würden schon staunen. Straßenbäume waren ihnen ja vertraut, aber dass man sie auch mitten in der Straße pflanzen kann, das würden sie wohl schwer verstehen. Freuen würde sich bestimmt Matthias Pohl, dass genau an der Stelle, an der er so gerne im Schatten saß, wieder ein Baum seinen Platz gefunden hat. Und anstelle des Milchbockes hat der Eifel-verein neben dem Backhaus eine Kommunikations- und Verweilecke geschaffen.