Hilgerath - Annäherung an einen Mittelpunkt

Winfrid Blum, S p r i n g i e r s b a c h

I.

Fährt oder geht man von Daun der Lies er entlang aufwärts - in die Struth hinein -, erscheint rechts über den Baumwipfeln der spitze Helm eines Kirchturms, noch bevor man die Höhe von Neichen erreicht hat: es ist der Turm der Bergkirche Hilgerath, 532 m hoch gelegen. Die Straße in dieser Mittelgebirgslandschaft bewegt sich hier schon auf einer Höhe zwischen 463 (Abzweigung Kradenbach) und 482 (Ortseingang Beinhausen), so dass die Höhenlage der Kirche nur gemäßigt ins Auge fällt. Die dazu gehörende Pfarrei trägt den Namen der Gemeinde Beinhausen, wo auch das Pfarrhaus am Ortsausgang nach Neichen steht.

Der Verfasser dieses Beitrags war oft und gern während der Schulferien und zu Besuch im Elternhaus seines Vaters und kennt daher aus eigener Anschauung den langen Weg von diesem Haus am Pfarrhaus vorbei den Berg hinauf nach Hilgerath. Ja, nach Hilgerath, obwohl da außer der Kirche kein weiteres Gebäude anzutreffen ist. Schien der lange Weg auch dank der Gesellschaft von Vettern und Kusinen erträglich, der junge Kirchgänger musste hin und zurück die (schreckliche!) Entfernung von jeweils 1,5 km bewältigen.

Beinhausen ist nur ein Ort der Pfarrei, dazu gehören noch sechs weitere Filialorte: Boxberg und Kradenbach (je 2,5 km entfernt), Neichen (1 km), Sarmersbach (3,5 km), Nerdlen (6 km) und Gefell (5,5 km).

(1) Der Blick auf die Landkarte erhellt, dass Hilgerath ziemlich in der geographischen Mitte dieser 7 Dörfer liegt. Ob das denen ein Trost war, die ehemals von allen Seiten bergauf zum Gottesdienst strömten?

II.

Was erwartete den Knaben in seinen Beinhausener Ferien und alle andern, die zu ihrer Kirche „pilgerten", hier (i. J. 1950 zählte die Pfarrei knapp 900 Katholiken)? - Es war fraglos der äußerliche kirchliche Mittelpunkt einer gläubigen Schar, für die der zweimalige sonntägliche Kirchenbesuch (Messe und Christenlehre/Andacht) selbstverständlich war. Dazu kam damals die Werktagsmesse morgens früh, die regelmäßig von der unverheirateten Tante im väterlichen Elternhaus besucht wurde. Dass auch der Pfarrer zu jedem Gottesdienst zu Fuß den Berg hinauf und wieder hinab musste, war da nur eine geringe Genugtuung. Eine Erinnerung an den damaligen „Hea", den Pfarrherren, ist geblieben: er schritt, ein großer Musikliebhaber, der im Gottesdienst vom Altar aus dem (Küster und) Organisten am Harmonium Anweisungen zum musikalischen Fortgang lautstark erteilte, summend und intonierend mit seinem Kirchenvolk, das noch nicht deklamierte „wir sind die Kirche", bergauf und bergab.

Die einfache, bäuerliche Kirche, in die man durch den wuchtigen Westturm schreitet, ist gerade durch ihre Einfachheit und gedrungene Silhouette ein sakraler Raum, dessen Stille den Besucher/ Beter gefangen nimmt. Ein Ausstattungsstück rückt wie von selbst in den „Mittelpunkt", ohne die liturgisch notwendige Einrichtung zu beeinträchtigen: das so genannte Gnadenbild, eine „Beweinung", aus einem Stück Holz gearbeitet, wohl um die Mitte des 15. Jhd. geschaffen (2). Sieht man die Gesichter der Pieta - die Madonna, den Christuskörper auf ihren, des Johannes und der Maria Magdalena Knieen - , sieht man die Gesichter der davor Betenden, die bis in die jüngste Zeit hinein durch die harte Arbeit am kargen Eifeler Boden gezeichnet waren, wird deutlich: das Zentrum religiösen Lebens der sieben Dörfer war hier!

Hier, wo wohl nie ein Dorf stand, vielleicht eine ehemals heidnische Kultstätte. Der älteste Teil des Gebäudes, der anfangs erwähnte wegweisende Turm, ist seiner Bauweise nach in die Zeit vor 1500 einzuordnen. Der jüngste Bauteil, das Querschiff, 1949/50 erbaut, ist Zeugnis der „Fronarbeit" der sieben Dörfer: jedes Dorf erbrachte seinen Anteil „op der Frühn" in wöchentlicher Abfolge bei den Erdarbeiten, dem Herbeischaffen des Baumaterials, Brechen der Steine und beim Abräumen mit Anlage des neuen Friedhofteils, der hier noch Kirchhof ist. Das stolze Ergebnis für jeden Pfarrangehörigen: ein erneuerter Mittelpunkt.

III.

Heute noch? Der Leser urteile selbst anhand nachfolgender Kriterien!

Das kostbare Ausstattungsstück „Beweinung" wurde Ende der 70er Jahre gestohlen. Wider jede Hoffnung wurde die Pieta 1994 in der Gegend um den Bodensee aufgetrieben und feierlich heimgeholt. Von da an datiert die Hilge-rather Sternwallfahrt. Die kirchlichen Organisationsstrukturen müssen sich wie die staatlichen und kommunalen ständig selbstkritisch betrachten und neuen Gegebenheiten öffnen. Stichworte zum Handeln wie nachlassender Kirchenbesuch, Landflucht, Überalterung, Priestermangel, pastorale Erfordernisse usw. bescheren auch der bischöflichen Verwaltung zwar keine täglichen Revolutionen, aber Zwänge zum behutsamen Anpassen von Pfarrverbänden, Seelsorgeeinheiten, zentralen Diensten usw. Suche nach spiritua-len Diensten ist gefragt. Konnte um die Wende vom 19. zum 20. Jhd. noch der Ortspfarrer den begabten Bauernjungen in Latein unterrichten, ihn zum Besuch einer höheren Schule bewegen und seine Familie als Unterstützende gewinnen, Fördermittel auftun und damit ein etwaiges Studium ermöglichen, muss heute der Pfarrer als „Herr" in der Kirche und eines Stabes von leicht 10 Mitarbeitern managerähnliches Organisationsgeschick haben und sich den Fragen nach verinnerlichter Religiosität stellen; und das ist zum Teil schon Praxis geworden -auch dank moderner Leitungsmethoden und -mittel. Umso wichtiger ist ein zentraler Punkt als Stätte, in der die Frohbotschaft verkündet und das Messopfer gefeiert wird, wo die religiösen Stränge miteinander verknüpft, Priester, Helfer und Kirchenvolk vereint werden. Unter der Herausgeberschaft des nicht der Revolution verdächtigen, angesehenen Geschichtsvereins „Prümer Land" e. V. ist von einem Eifeler Autor ein Buch erschienen (3), das „Volksfrömmigkeit contra Fortschritt", „Eifeler Katholizismus - Tradition auf dem Prüfstand" zum Gegenstand hat. Wenn auch das Lesen manchmal schmerzt -es tut gut, heilt; deshalb sollte man es durchlesen bis zur Schlussbetrachtung, nein, einschließlich derselben, lesen. Hier wird der Kern religiösen Lebens und Bekennens deutlich, der Mittelpunkt.

IV.

Die anfangs erwähnte fröhliche Kinderschar, die mal weniger gern, mal gern den Weg zur Bergkirche hinauf und wieder zurück eilte, hat kaum noch „Altvordere" vor sich; all die Vettern und Kusinen sind mittlerweile selbst in diese Rolle gerückt. Ihre räumliche Ausbreitung hat die einmalige Struth, das Liesertal, Mosel und Rhein und noch weiter überschritten. Der Tod hat diese ehemals junge Generation ganz natürlich und „tödlich" entdeckt. Die Zahl der noch Unentdeckten wird kleiner. Sie vereinen sich bildlich und tatsächlich, wenn die Glocken der Bergkirche mal wieder zu einem Abschiednehmen auf den Kirchhof rufen: Hilgerath bleibt für sie der Mittelpunkt.

Literatur

(1) Blum Peter/Schug Peter, Pfarrkirche Hilgerath für die sieben Dörfer der Pfarrei, Beinhausen/Eifel, Neuwied, 1950

(2) Wackenroder Ernst, Kunstdenkmäler der Rheinprovinz -Kreis Daun, Düsseldorf, 1928

(3) Johannes Nosbüsch, Es werde Licht, Edition des Eifel-Literatur-Festivals, Nieder-prüm, 2001