Abschied von USA

Wilma Herzog, Gerolstein

Zwölf Jahre war New York, the big apple, nun meine zweite Heimat. Dann entschieden mein Mann und ich, vor allem zum Wohle unserer Tochter, nach Deutschland zu ziehen. Über einen längeren Zeitraum hatten wir betrübt von vielen guten Menschen und liebgewordenen Plätzen Abschied genommen. Ich war keineswegs nur Feuer und Flamme, zurückzukehren. Es gab Zweifel und Bedenken, ob dies für meine Familie wirklich das Beste wäre. Denn mir war klar, Deutschland hatte sich verändert, so wie ich mich verändert hatte in der langen Zeit. Ich stellte meiner Mutter derart viele Fragen in meinen Briefen, dass sie mir, schon etwas ungeduldig darüber, einmal schrieb: „Was willst du denn noch alles wissen, du kommst doch ganz einfach nur heim." Ich wusste, 1970 würde es nicht mehr das Deutschland von 1958 sein. Würde ich heimkehren in ein fremdes Land? So habe ich denn viele schlaflose Nächte in meiner Küche verbracht, über schriftlichen Aufstellungen von dem, was ich schweren Herzens aufgab, und manchem auch, auf das ich gerne verzichten wollte, und über das, was uns erwarten könnte, um zu einem richtigen Entschluss zu kommen. Aber es waren Rechnungen mit zu vielen unbekannten Faktoren. Denn zwischen Briefzeilen aus Deutschland erfuhr ich, dass es dort zu einem Werteverlust gekommen sein muss-te, ahnte den Eifer, sich einem dort angefertigten Bild vom „American dream" anzupassen, in dem von diesem Land die unbegrenzten Möglichkeiten nur in einer Ausdehnung, nämlich der nach oben ins Helle, gezeigt wurden. Und um diesem nachzueifern, schien man die nach dem Krieg gefassten eisernen Vorsätze und viel Eigenes freudig über Bord zu werfen. Ich versuchte auch die Erwartungshaltung meines Mannes zu dämpfen, der es wirklich gut mit uns meinte, und dafür sogar den Umzug auf einen anderen Kontinent in Kauf nahm. Versuchte ihm das völlig unbekannte Terrain zu erklären, die zu erwartenden Schwierigkeiten mit der Sprache, die andere Mentalität, die tiefhängenden Wolken, der fehlende Blick in die Ferne mit dem weiten Horizont, das graue Winterwetter, der viele Regen.

Gewiss schwebte für mich über allem als rosige Wolke der Gedanke, wieder daheim sein zu dürfen. Aber ob das so leicht zu schaffen wäre, dort wieder Fuß zu fassen? Hier eine Weltstadt, der Broadway mit Weltstars auf den Bühnen, Carnegie Hall, die Fifth Avenue, wo ich bei Saks mein Brautkleid gekauft hatte. Nein, New York ist nicht auf hundert Buchseiten zu schildern. Meine Tochter müsste in ein anderes Schulsystem mit einer fremden Sprache integriert werden, sie müsste Verwandte und Spielkameraden, einfach alles verlassen. Das wog sehr schwer. In USA war mir auch viel Positives begegnet, das ich als Eifelerin ganz besonders ge-noss. Keiner versuchte mich jemals dort in das winzige Quadrat zurückzuklopfen, aus dem ich gekommen war, nach dem Spruch: „Schuster bleib bei deinen Leisten!" Präsident Kennedy's Auftrag: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst!" griffen wir junge Menschen freudig auf und betätigten uns ehrenamtlich in der Kommune. Es war unser Krankenhaus, unsere Schule, unsere Pfarrei, wo wir arbeiteten mit eigenen Ideen zum Gemeinwohl. Wir entfalteten uns, erweiterten Fähigkeiten und Wissen. Kein Neid engte ein, lähmte unsere Energie, keine Missgunst schwieg unsere Ideen, unsere Leistung, tot. Man sagte: „Vorwärts, tu es". Das war mein Amerika. Bei einem Vorstellungsgespräch legte ich dem Personalchef den Packen deutscher Zeugnisse samt Übersetzungen vor. Er drehte sofort alles herum und schob es mir über den Schreibtisch zurück und sagte: „Sie fangen morgen hier an und zeigen uns, was sie können!"

Einen Monat später hatte ich - ungefragt - bereits eine Gehaltserhöhung, ein paar Monate später, als ich eine Woche nicht arbeiten konnte, legte er mir den Gehaltsscheck für diese Zeit dennoch auf den Schreibtisch. Ich sagte: „Ich habe die Woche gefehlt und erhalte keine Bezahlung." Er sagte: „Egal, sie verdienen es". Dieser Chef war Jude.

Das war mein Amerika. Aber auch, dass es normalerweise keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gab, kaum Urlaub außer den gesetzlichen Feiertagen, dass Frauen im Beginn der Schwangerschaft vorsorglich entlassen wurden, ohne irgendeinen Anspruch auf Geld. Obwohl sie gerade dann das Krankenhaus bereits für die Entbindung anbezahlen mussten. Um Kosten zu sparen, nahm darum eine Mitpatientin ihr Neugeborenes direkt nach der Geburt mit heim. Sie war knapp eine Stunde im Krankenhaus, beanspruchte nicht einmal ein Bett, ihre Bluse behielt sie an. Eine neunjährige Nachbarin ließ sich einen Zahn ziehen. Und wie sie stolz zu Hause ihrem Vater mitteilte: „Ohne Betäubung, damit es nicht so teuer für uns wird." Arztbesuche wie die verordneten Medikamente zahlte man komplett selbst. Viele Menschen arbeiten bis ins hohe Alter, oft an mehreren Stellen, manche bis zum Ende, um leben zu können. Oft hatte ich Mitleid mit ihnen, die in einfachsten Umständen lebten und im Alter noch so schwer um ihr tägliches Brot kämpfen mussten, die, weil sie nicht anders wussten, dennoch felsenfest glaubten, im besten Land der Welt zu leben, Auch das war Amerika. Kaum jemand wusste etwas über Deutschland oder Europa. Deutschland kam in den Medien äußerst selten vor, und was sehr schmerzte, dann nur mit Rückblicken auf das „Dritte Reich" und im Zusammenhang mit den USA als siegreiche Nation. Nie sah ich in den zwölf Jahren dort auch nur ein Bild einer bombenzerstörten deutschen Stadt. Von meiner Mutter erfuhr ich aus Briefen, dass Bundeskanzler Konrad Adenauer in Washington gewesen war. Ende der sechziger Jahre mahnten uns Entwicklungen mit eindringlicher Deutlichkeit, dass wir auf jeden Fall müssten fortziehen. Egal wohin. Dass die Stadt New York jedes Jahr für die Reparatur von Fensterscheiben ihrer Public Schools drei Millionen Dollar auslegte, bewegte die Behörde dazu, viele Schulfenster mit Draht zu vergittern. Wer konnte, sandte seine Kinder ohnehin zu Privatschulen, mit gleichzeitiger Garantie für eine bessere schulische Ausbildung, zog deswegen sogar um. Denn es hieß, Schüler verließen die High School, ohne überhaupt richtig Schreiben und Lesen zu können.

Den letzten Impuls fortzugehen, gab uns dann jener Tag, an dem die von Nonnen geleitete private katholische Pfarrschule, die unsere Tochter besuchte, angegriffen wurde. Die Kinder hatten unter den Schulpulten, Bücher über dem Kopf und später in den Fluren liegend, Deckung gesucht, während sämtliche Scheiben des Gebäudes eingeschlagen wurden. Unterwegs wie jeden Tag, um unsere Tochter abzuholen, kam mir Patrick, der frühere Parkwächter, aus Richtung dieser Schule entgegen. Er rief von weitem: „Lauf schnell, da ist was im Gange!" Ich rannte in Panik. Schon kreischten Ambulanzen heran, Polizeisirenen heulten, vor der Schule standen sich Menschen gegenüber. Ich sah Ketten, Baseballschläger, Schäferhunde, ein riesiges Polizeiaufgebot. Die Luft vibrierte vor Gewalt. Es war die Zeit der amtlich angeordneten Busbeförderung von schwarzen Schulkindern in die Wohngegenden der Weißen. Tags vorher hatten unbekannte schwarze Jugendliche vor der Schule Zettel verteilt. Diese wurden nur an Schwarze gegeben. Vieles andere geschah und zeigte nur allzu deutlich, wie mit anderen Teilen der Stadt, auch unsere zuvor ruhige und schöne Wohngegend, verwandelt wurde. Nach und nach, dann immer schneller, brannten Geschäftshäuser in der Parallelstraße ab. Viele unserer Nachbarn waren bereits fort oder saßen auf gepackten Koffern. Am letzten Abend vor meinem Verlassen der USA ging ich ein allerletztes Mal in den Park vor unserem Haus, um dort Abschied zu nehmen. Ich sah zu den alten hohen Bäumen hinauf, unter denen unsere Tochter groß geworden war. Wo sie in ihrem Schatten gespielt, die „Squirrels" gefüttert, ihre ersten Rollschuhe ausprobiert und unseren Dackel „Maxi" spazieren geführt hatte. Dort hatten wir unseren Kanarienvogel unter einem Wildrosenstrauch begraben. In der Nähe war auch der Spielplatz, wo ich sie als kleines Mädchen zum ersten Mal auf eine der vielen kleinen Schaukeln setzte, und ich selbst genoss auf einer für Erwachsene - ohne schiefe Blicke zu ernten - das Schaukeln wie in Kindertagen. Dort im eingezäunten großen Bereich für allerlei Ballspiele und Freizeitvergnügen war die Sprinkleranlage, die von Patrick, dem grünuniformierten städtischen Parkwächter, in den heißen Sommermonaten angedreht wurde, unter denen glücklich tobende Kinder in Badeanzügen im kühlenden Wasserregen den ganzen Nachmittag spielen konnten.

Wir Mütter saßen nah dabei auf unseren Klappstühlen, mit kühlen Getränken und vorbereitetem Imbiss und verbrachten viele Stunden gemeinsam im Freien. Patrick kümmerte sich um alles, besonders aber um die allein spielenden Kinder, er war Ratgeber und väterlicher Freund vieler Jugendlichen, die mit Problemen zu ihm kommen konnten. Er kaufte oft von seinem eigenen Geld Geburtstagsüberraschungen für die Kinder, von denen er wusste, dass daheim niemand daran dachte. Inmitten der Riesenstadt New York, mit all dem, was täglich darin passierte, fühlten wir uns mit dem Parkwächter auf diesem Spielplatz absolut sicher. Jetzt war der über vier Meter hohe stabile Maschendrahtzaun, der mit einem sicheren Tor versehen und nachts abgeschlossen wurde, an vielen Stellen durchschnitten. Unter den Sitzbänken lagen benutzte Spritzen. Das kleine Backsteingebäude, worin Patrick die Spielgeräte aufbewahrte, die Schlüssel zur Sprinkleranlage, seinen Erste Hilfe-Schrank, sein Telefon und vieles andere, was er für die Kinder brauchte, war jetzt, nachdem es erst außen mit Farbschmierereien verunstaltet wurde, durch Brandstiftung eine Ruine. Patrick selbst, unser geschätzter Parkwächter, war trotz aller Protest- und Bittschreiben von uns Müttern seitens der Stadt, aus Geldmangel, wie geantwortet wurde, abgezogen worden.

Ich suchte eine freie Bank an diesem Abend vor meiner Abreise. Die meisten waren besetzt. Ein älterer Herr saß auf einer ganz in der Nähe unseres Hauses. Dieser weißhaarige Mann wohnte im Nachbarhaus. Ich hatte ihn schon öfter gesehen. Jedoch hatten wir nie ein Wort miteinander gewechselt. Ich fragte, ob ich mich dazusetzen könnte. Er nickte ja.

Wir saßen also ohne Worte da, blickten über den Park und den Bronx River hinweg, hinüber nach Woodlawn, dem riesigen Friedhof, der von dieser Seite wie ein Berghang sich bis zum Horizont erstreckt, von Wegen durchzogen, gleichsam ein Park mit Bäumen, vor allem den im Frühling herrlichen gelb-, weiß- und rotblühenden dog-woods, eine Hartriegelart, darunter nur gepflegte Rasenfläche mit einzelnen größeren Monumenten. Jetzt stand darüber die untergehende Sonne. Ein majestätischer Anblick, den sie uns mit ihrem Farbenspiel bot. Auf einmal summte mein Banknachbar ganz leise ein Lied. Ich erkannte es sofort:

„Goldne Abendsonne, wie bist du so schön". Als er zu dem Strophenteil kam „nie kann ohne Wonne, deinen Glanz ich sehn," sang ich leise diese Worte zu seinem Summen.

Er stoppte, sah mich erstaunt an und fragte: „Sie sind auch deutsch?" Mich traf ein Gedankenblitz, und darum sagte ich: „Bleiben sie doch bitte noch einen Moment hier, ich bin gleich zurück!" Ich eilte ins Haus und öffnete noch einmal meinen Koffer und nahm den einzigen Wertgegenstand heraus, den ich von daheim nach USA mitgenommen hatte, das dicke Buch, das mir in zwölf Jahren New York mein deutsches Brot war, wenn immer ich wieder einmal getröstet werden musste.

Dieser Herr hatte mir mit seinem deutschen Lied gezeigt, dass er es in der Zukunft nötiger hatte als ich. Denn morgen schon kam ich wieder heim, wo ich das alles in Fülle haben durfte. Also schenkte ich ihm meinen Lyrikband „Der Ewige Brunnen", worin das Lesezeichen noch steckte bei dem so oft gelesenen Gedicht „Deutsches Leid" der Gertrud von le Fort und sagte: „Das brauche ich jetzt nicht mehr. Ab morgen bin ich wieder in Deutschland. Wir ziehen in die Eifel. Da bin ich geboren." Der Herr dankte mir mit großer Rührung. Er strich über das Buch, das er an sich drückte und sagte leise: „Ich kann nicht mehr zurück.

Meine Frau starb vor fünf Jahren", und mit einem Blick nach „Woodlawn" fügte er hinzu: „Sie ruht dort oben, ich bleibe bis zum Schluss in ihrer Nähe. Grüßen Sie Deutschland. Ich wünsche Ihnen viel Glück und Gottes Segen in Ihrer Eifel."