„ ... haben doch den Orth die Einwohner Verlaßen …“

Entstehen und Verschwinden des Dorfes Sarresdorf

Karl-Heinz Böffgen, Gerolstein

„Sarresdorff ist Vor alterß auch ein Dorff gewesen, haben doch den Orth die Einwohner Verlaßen und seyend wegen der freyheit in den Flecken Gerolstein gezogen; alßo die Kirch, Fahrhauß und Hoff sambt dem Custerhauß allein geblieben." Dies schrieb Matthias Bernar-di, der Pfarrer von Sarresdorf, 1760 in sein Kirchenbuch1. Der einst bedeutende Pfarrort Sarresdorf wurde wahrscheinlich ab dem 14. Jahrhundert nach und nach von seinen Bewohnern aufgegeben, Mitte des 18. Jahrhunderts blieben nur noch die Kirche, das Pfarrhaus mit Wirtschaftsgebäude, das Küsterhaus und, das sei hier ergänzt, die alte Mühle an der Kyll übrig. Ein Dorf wurde zur Wüstung, bestätigt durch die TranchotKarte von 1809. Als Wüstung bezeichnet man aufgegebene, untergegangene Siedlungsstätten und Dörfer. Die Hauptursache für das Wüstfallen Sarresdorfs nannte Pfarrer Bernardi in seinem Bericht: „ ... seyend wegen der freyheit in den Flecken Gerol-stein gezogen ..." Bevor die Gründe für diese Landflucht der Einwohner näher beschrieben werden, gehen wir folgenden Fragen nach: Wie und wo ist Sarresdorf entstanden? „Hier lässt sich gut leben", so könnte um Christi Geburt ein gewisser edler Herr Sarabod gedacht haben, als er den prächtigen, luxuriös ausgestatteten Herrensitz nach römischem Vorbild errichtete; später wurde er „Sarabodis villa" genannt. Der Standort war in der Tat gut gewählt: Fruchtbarer Boden auf dem erloschenen („Sarresdorfer") Lavastrom bei den Gerolstei-ner Felsen, der Peschenbach, die nahe Kyll und daneben eine heilkräftige Mineralquelle (später „Sidinger Drees" genannt); unter der römischen Herrschaft war der Friede im Land gesichert. Das änderte sich mit den Völkerwanderungen und dem Einfall der Franken in die Eifel Mitte des 4. Jahrhunderts. In diese Zeit fiel wahrscheinlich auch die Zerstörung von „Sarabodis villa". Man darf annehmen, dass es in Sarresdorf im 6. Jahrhundert eine schwache fränkische Besiedlung gab. Die Ortsnamen fränkischer Neugründungen enden oft mit ,,-ingen", „-heim" und ,,-dorf. Daraus lässt sich in Verbindung mit „Sarabod" der Name „Sarresdorf ableiten. Es war wohl mehr als ein Gehöft, eher ein Weiler oder ein kleines Dorf, das König Pippin und seine Gemahlin, die Eltern Karls des Großen, im Jahr 762 ihrem Hauskloster Prüm schenkten. Im Güterverzeichnis des Klosters wird dieser Grundbesitz 893 erstmals mit „Sarensdorpht" bezeichnet. Es wird angenommen, das Sarresdorf um 1075 bereits Pfarrort war 2. Burg, Burgdorf oder Flecken Gerhardstein (später Gerolstein) existierten noch nicht. Aus dem Prümer Urbar (= Güterverzeichnis) des Erzabtes Caesarius von 1222 erfahren wir, dass das Kloster in Sa-rensdorpht neben einer Mühle an der Kyll ca. 170 Hektar Ackerland besaß, was ca. 10 Familien Unterhalt bot3. Da meist drei Generationen in einem Hof lebten, dürfte das Dorf ca. 80 - 90 Einwohner gezählt haben. Die unfreien, „hörigen" Bauern waren nicht Eigentümer der Äcker, Wiesen, Wälder und Gewässer. Sie bewirtschafteten den Grundbesitz des Klosters Prüm und hatten Abgaben und Frondienste zu leisten: Jährlich den „Zehnt" als Naturalabgabe, den Bodenzins und den Leibzins, dazu die Vogt- und Gerichtssteuer; Frondienste in Form von Hand- und Spanndiensten (z.B. beim Wege- und Brückenbau) sowie durch Arbeiten auf dem Fron- und Herrenhof; aber auch unregelmäßige Abgaben wie die „Heiratsbuße“ = Heiratserlaubnis und gegebenenfalls Kriegssteuern und Straf-bußen4. Die Grundhörigen lebten unter der drückenden Abhängigkeit des Klosters Prüm. Daran änderte sich auch nichts, als im Jahr 1291 der Blankenheimer Graf Gerhard IV. durch einen Gütertausch Grundherr von Sar-resdorf wurde.

Vermutlich 1524 wurde statt einer älteren (Holz- ?) Kirche eine gemauerte errichtet. Auch das Pfarrhaus könnte um diese Zeit entstanden sein. Es wurde 1542/43 im Geldri-schen Erbfolgekrieg von Jüli-schen Truppen niederge-brannt5 und später wahrscheinlich auf den alten Fundamenten neu gebaut. Daneben gab es keine steinernen Gebäude. Die Bauernfamilien lebten in einem Haus, das in einer Holzständer- oder Holzfachwerkbauweise errichtet war, die Ausfachungen bestanden aus einem Holzflechtwerk mit einem Stroh-lehmverstrich, die Dächer waren mit Stroh und Reet gedeckt. Das Leben spielte sich zunächst in einem einzigen Raum ab, nur die Stallungen waren abgetrennt. Reste dieser Gebäude sind nach so langer Zeit nicht mehr zu finden. Mit einiger Sicherheit kann als Standort für das alte Dorf der Bereich des jetzigen Friedhofs angenommen werden. Dafür sprechen: Die To-pografie (flaches Gelände), die Lage der ehemaligen Kirche und des Pfarrhauses mit ihrer traditionellen Platzierung mitten im Dorf, alte Flurnamen wie „In den Pe-schen ober Sarresdorf, „Im runden Pesch" u. a., der nahe Peschenbach und die Lage der alten Mühle. Auch werden die „Standortvorteile" aus den Zeiten der „Sarabodis villa", wie bereits gerodete Flächen und vorhandene, bereits kultivierte Ackerböden, eine Rolle für die Dorfgründung und -entwicklung an dieser Stelle gespielt haben. Fortan war das Leben der Dorfbewohner geprägt durch Unfreiheit, Ausbeutung durch die Grundherrschaft, Hungersnöte und durch die zahlreichen Fehden und Kriege, die über ihr Dorf und über ihre Äcker zogen. Die Sarresdorfer werden aufmerksam beobachtet haben, was ganz in der Nähe geschah: Unterhalb des Felsens, auf dem die Blankenheimer Grafen vermutlich im 12. Jahrhundert begannen eine Burg zu bauen, entstand um 1300 das Burgdorf Gerhardstein. Das Dorf erhielt 1336 die Stadtrechte und die Bürger erlangten dadurch bisher unbekannte Privilegien. Es waren weniger die schützenden Mauern, die die Sar-resdorfer veranlassten in die neue Stadt zu ziehen, vielmehr waren es, wie der Pfarrer Bernardi schrieb, die „freyheiten". Das Schlagwort hieß: „Stadtluft macht frei!" Als Neuankömmling war man in der Stadt zwar noch Eigenmann des Stadtherrn („Luft macht eigen"), aber nach Jahr und Tag kam man schließlich in den Genuss der Stadtfreiheiten („Stadtluft macht frei"). Und in der Stadt durfte man sich dann nicht nur den Ehepartner frei wählen, sondern war auch von den grundherrlichen Arbeitsverpflichtungen frei, nicht mehr an die Scholle gebunden und konnte frei über seine Arbeitskraft und seinen Arbeitsertrag verfügen. Hier in der Stadt besaß man die Freizügigkeit, hier waren alle Bewohner dem Recht nach gleich, jedem wurde Frieden und Freiheit garantiert, und hier gab es das freie Besitz-und Erbrecht sowohl für die männliche als auch für die weibliche Stadtbevölkerung. All diese genannten städtischen Freiheiten gehörten neben der Stadtmauer, dem Stadtrecht und der marktorientierten Wirtschaft zu den charakteristischen Merkmalen der mittelalterlichen Stadt6.

Die Erlangung dieser völlig neuen persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten war ein gewaltiger Fortschritt. Das Dorf entleerte sich, die Bewohner gaben ihre Häuser auf und bauten neue in der mit Mauern bewehrten Stadt -Sarresdorf wurde zu einer Wüstung. Dennoch blieb Sar-resdorf amtlich bis 1821 Pfarrort, erst 1834 zog auch der Pfarrer nach Gerolstein. Die Sarresdorfer Kirche, die winklig angeordnet in der Nähe des heutigen Pfarrhauses stand, wurde 1812 bis auf den Chor und 1832 auch dieser abgetragen. Wer sich heute über die verkehrsreiche Bundesstraße 410 durch den quirligen, baulich leider ungeordneten Stadtteil Gerol-stein bewegt, wird nur noch durch das alte Pfarrhaus an den bedeutenden Pfarrort erinnert. Der älteste Stadtteil schreibt längst ein neues Kapitel der Geschichte Gerol-steins. Die Menschen zieht es nun, umgekehrt als vor etwa 500 und mehr Jahren, aus der Kernstadt nach Sarresdorf: in die neue „Einkaufsmeile".

Quellen:

1 Böffgen, Josef, Um Munterley und Löwenburg, Heft 6, Hrsg.: Stadt Gerol-stein 1980

2 Marx, Jakob/Schug, Peter, Geschichte der Pfarreien der Diözese Trier, V. Band, Trier 1956

3 Winter, Joachim, Der Gerolsteiner Raum im frühen und hohen Mittelalter, Beitrag S. 83/84 aus „Gerolstein", Hrsg.: Stadt Gerolstein 1986

4 Hug, Wolfgang (Hrsg.), Geschichtliche Weltkunde Band l, Verlag Moritz Dies-terweg 1979

5 Wackenroder, Ernst, Die Kunstdenkmäler des Kreises Daun, Druck und Verlag von L. Schwann, Düsseldorf 1928

6 St. Matthias-Gymnasium Gerolstein (Projektwoche 2003), Das mittelalterliche Gerolstein im Modell, Dokumentation, Projektleitung: Helmut Blinn und FranzJosef Nett