Margaretentag

Hildegard Kohnen, Brühl

Die Lombach heißt ein Weg hinter Bettenfeld, der in Richtung Deudesfeld durch den Wald zum Holzbäuel führt. In der Lombach holten sich die Leute seit eh und je weißen Sand zum Bauen. Im Holzbäulwald suchten sie seit eh und je im Sommer Heidelbeeren. So auch im Jahre 1948 an Margaretentag. Es war ein besonders heißer Julitag, als eine junge Familie aus Bettenfeld, nachdem das Vieh versorgt war, sich aufmachte, um Heidelbeeren zu suchen. „Macht voran“, rief die Mutter, die auch Margarete hieß, ihren fünf Kindern zu: „Der Wald ist wunderbar schattig. Heute finden wir bestimmt eine Menge. Dann koche ich Schmieres und den Rest der Beeren verkaufen wir.“ Das Geld war knapp. Die Zeiten schlecht. Während der Vater die Dosen mit Seilen versah, die umgebunden wurden, damit die Hände zum pflücken frei blieben, richtete die Mutter noch einen großen Korb mit Essen und Spielzeug her. Für sich nahm sie einen etwas größeren Henkelmann. Sie hatte behende Hände. Bald ging es los in die Lombach, vor dem Wald, wo die drei Kleinen unter Aufsicht des älteren Bruders verbleiben sollten. „Hier habt ihr den schönsten weißen Sand, den es überhaupt gibt und könnt damit spielen“ sagte der Vater und gab ihnen das Spielzeug aus dem Korb - ausgewaschene Schuhkremedöschen u. alte Löffel. „Wir sind ganz in der Nähe. Und ein Auto kommt hier ganz bestimmt nicht vor-bei“, lachte er, nahm die älteste Tochter an der Hand und ging seiner Frau nach, die schon im Wald verschwunden war. Sie waren nicht die einzigen, die dort nach den saftigen Früchtchen suchten. Im Wald wimmelte es vor Beerensuchern. Selbstvergessen spielten die Kinder im Sand, buken Sandkuchen, gruben Tunnels und bauten Gräben. Ganz in der Nähe entdeckten sie zwei Ochsen die auf der Wiese grasten. Sie gehörten dem Schmied aus dem Dorf, der mit seinem Sohn einen riesigen Schiedel mit Sand belud. Edeltrud plagte die Neugier und lief zu den emsig arbeitenden Männern und sah ihnen zu. Als der Wagen voll war, wurden die Tiere wieder eingespannt und Hacke und Schaufel versorgt. Die Männer wollten sich auf den Rückweg machen. Der Schmied stieg noch einmal vom Wagen, schaute auf das vorwitzige kleine Ding, zeigte auf die Sandgrube und sagte: “Dass ihr da ja nicht reingeht. Dort ist ein tiefes Loch. Das ist sehr gefährlich.“ Dabei erhob er mahnend die Hand. Edeltrud nickte. Über der Grube hingen die schönsten Heidelbeeren, alles war blau. Das kleine Mädchen schaute dem Wagen so lange nach, bis es ihn nicht mehr sehen konnte. Dann kroch es auf allen Vieren ganz langsam hoch bis an den Rand der Grube und staunte. Da unten lag ein Sandmeer. Wunderschön farbig glitzerte es in der Sonne. Es wusste noch nicht, dass nasser Sand in allen Rotfarben funkelt, und ockerfarbig aussehen kann und erst weiß wird, wenn er trocken ist.

„Horst“, rief es begeistert nach dem älteren Bruder. Alle Mahnungen des Schmiedes waren vergessen. „Komm her, hier ist der schönste Sand der Welt. Er ist feucht und klebrig. Mit dem können wir prima bauen“. Horst kam, im Schlepptau den kleineren Bruder Urban. Sie bestaunten den schillernden Wundersand, liefen in die Grube und brachten was sie tragen konnten nach oben. Anne, die Jüngste saß daumenlutschend im Kinderwagen mit sich und der Welt eins. Sie bauten wie die Weltmeister. Edeltrud schickte Urban noch einmal zum Sand holen. Plötzlich machte es Flupp. Ein seltsames Geräusch, das man nicht anders beschreiben konnte. Die Grube fiel zu. Der Sand rollte. Der Sand floss - den Hang hinunter. Von Urban war nichts mehr zu sehen. Die Kinder schrieen um Hilfe, selbst Anni im Kinderwagen brüllte begeistert mit. Aus dem Wald kamen von überall her die Leute, Männer, Frauen, Kinder. „Was ist pas-siert?“ „Der Urban, da drin, der Urban ist da drin und dann fiel der Sand.“ Jedes der Kinder zeigte auf eine andere Stelle. In Windeseile bildeten sich zwei Gruppen. Vorsichtig gruben sie mit den Händen. „Hier ist die Erde zu fest“, sagte der Vater. Plötzlich glaubte die Mutter Haare in den Händen zu haben. Sie legte den Kopf frei, dann den Körper. Er stand aufrecht, die Hand nach dem Sand ausgesteckt. Sie wuschen sie ihm den Sand von Gesicht und Körper. Mit Lindes - Kaffee, mit Wasser, mit Saft, mit allem was sie an Getränken bei sich hatten, mit Schürzen und Kopftüchern reinigten sie den kleinen Kerl, umarmten und herzten ihn. „Er lebt, er atmet, er weint, er lebt, er atmet, er weint“, wiederholten die glücklichen Eltern eins ums andere mal. Während er oben schon gewaschen wurde, mußten unten noch die Beinchen freigestellt werden. Das alles geschah mit äußerster Vorsicht damit der Sand nicht in Bewegung geriet. Als er draußen war, setzten sie ihn in den Kinderwagen und eilten nach Hause. „Es ist wie ein Wunder“, sagten die einen. „Da hatte Muttergottes ihre Hände im Spiel“, glaubte Ur-bans Mutter, eine große Marienverehrerin, genau so wie ihre eigne Mutter selig.

Edeltrud war zu klein, um die Sache mit dem Lieben Gott und der Muttergottes zu verstehen. Aber eines hatte sich unauslöschlich in ihr eingegraben; sie war es, die ihren kleineren Bruder in den Sand geschickt hatte. Sie fühlte sich schuldig, ohne zu wissen was Schuld bedeutete. Von den Eltern befragt, erzählten die Kinder, dass sie der Sand fasziniert hatte, und sie die Mahnung des Schmieds vollkommen vergessen hatten. Als der Doktor aus Mander-scheid den Unglücksraben untersucht hatte, meinte er nur: „Lobet den Herrn. Der Knabe ist heil, ich kann nichts feststellen!“ Horst hatte seitdem Albträume und Edeltrud wachte oft mitten in der Nacht weinend auf und konnte sich nur schwer beruhigen. Sie wurde stiller und stiller. Das Sprechen fiel ihr schwer. Also schwieg sie meist. Wenn Besuch kam und die Geschichte erwähnt wurde, lief sie aus dem Zimmer und versteckte sich. Mit keiner Menschenseele sprach sie als Kind darüber. Ihrem Bruder Urban konnte sie aber nie mehr etwas abschlagen. Er stand unter ihrem besonderen Schutz, ohne dass darüber je ein Wort fiel. Aus Kindern werden Erwachsene. Das Mädchen von damals heiratete und bekam selbst Kinder. Mitte der 8oer Jahre besuchte sie, wie schon oft vorher, eine alte Frau, die Gedichte schreibt und viele alte Geschichten kennt, auch wenn sie schon mal das Rad der Zeit zu langsam oder zu schnell drehte. Sie mochte die Alte und ihre warme Erzählweise. Hin und wieder verfiel sie dabei in ihren Dorfdialekt. „Edeltrud, kennst du die Geschichte vom Margaretendach? Dat Kreilije, wat bei eich do passiert war, lang eh du auf der Welt warst?“ Sie trank einen großen Schluck Kaffee und legte los, ohne die junge Frau weiter zu beachten: „... Die Heidelbeeren waren reif. ... Eier Leit waren an dem Dach och im Besch, matt all de Kanner. Daan war da die unmenschlich Schreierei - zu Helf, sät de Bernhard: Dat lo sein os Kanner die so schreien“.

Sie erzählte selbstvergessen und war tief in der Vergangenheit eingetaucht. Plötzlich sah sie auf: „Warum weinst du ?“ „Ich war es, die den Ur-ban in den Sand geschickt hatte. Ich war mir der Gefahr nicht bewusst“, schluchzte die junge Frau. Sie hatte die Geschichte durch das Erzählen der alten Frau noch einmal erlebt. Sie sah die Menschen aus dem Wald eilen und rufen: wo ist das Kind, was ist passiert. Sie sah Männer und Frauen, die mit Händen nach dem kleinen Bruder gruben. All die Jahre hatte sie diese vermeintliche Schuld tief in sich vergraben und mit niemanden darüber sprechen können. Daher wurde sie so still, bekam Sprachschwierigkeiten und lief weg, sobald darüber gesprochen wurde. Sie litt unter Schuldgefühlen und wusste als Kind nicht damit umzugehen. Und in der großen Kinderschar fiel ein stilles Kind nicht auf. Dieses späte Weinen hatte endlich Erlösung gebracht. Die Träume blieben aus. Sie hatte sich jemanden mitgeteilt.