Der große Kappestag

Magdalene Müller-Koch, Bad Neuenahr

Wenn der Herbst die Wälder bunt färbte und der Wind wieder zeigte, was er drauf hatte, wurde es Zeit, die Gärten abzuernten und winterfest zu machen. Die Ernte war ein froher Höhepunkt des Jahres, der Lohn für all die Mühe. Auf einen reichhaltigen Vorrat zu blicken, gab uns das sichere Gefühl, der stärkste Winter konnte uns nun nichts mehr anhaben. Äpfel und Birnen, sorgfältig gepflückt, lagen bald auf den Regalen im Keller, wo schon im roten Sand in Kisten Möhren und Sellerieknollen lagerten, damit sie fest und knackig zum Gebrauch bis zum Frühjahr blieben. Während Rotkohl, Wirsing und Lauch bereits in einer mit Stroh ausgepolsterten Gemüsemiete im Garten deponiert waren, stand der Weißkohl noch in Reihen mit ausladendem Blattwerk, das sich gegenseitig berührte. Jetzt kam der an die Reihe. Er wurde herausgezogen, mit scharfem Messer von Wurzeln und äußeren Blättern befreit. Seine festen Köpfe glänzten wie mit Speckschwarten eingerieben. Auf unseren Weißkohl aus dem Gerolsteiner Bungert war immer Verlass, war er doch unser Vitamin-C-Spen-der den Winter über bis zum Frühjahr. Im großen Flechtkorb brachte Vater ihn stolz huckepack nach Hause, d.h. in den Anbau, der sowohl unsere Badestube als auch Waschküche war. Im Haus sah Vater seinen Dienstplan nach dem nächstmöglichen freien Tag nach, den er als Lokführer hatte. Sogleich rief er: „Lisbeth, du kannst Herrn Kanapin, falls er dann noch frei ist, für den nächsten Donnerstag bestel-len.“ Mutter delegierte das an mich weiter.

Damit hatte ich einen guten Grund, am nächsten Tag, nach dem Schulunterricht in der St. Josefschule, an der Haustür der Kanapins zu schellen. Es war das Haus im Flecken, gegenüber der Drogerie Moog, wo rechts neben der Haustür der Sandsteinaltar aus dem Jahr 1784 eingemauert ist. Es war die Gelegenheit, mit Johanna, Herrn Kanapins Tochter zu sprechen, die eine Künstlerin war. Ich durfte ihr dann beim Malen über die Schulter schauen und auch all die wunderschönen Bilder in ihrer Kammer betrachten. Manche ihrer feinen Zeichnungen stellte sie in ihrem Schaufenster aus. An dieser Auslage blieben alle Kinder stehen, gelegentlich kauften sie auch davon. Es waren darunter Lesezeichen und Bildchen in der Größe der üblichen Heiligenbildchen. Aber hierauf gab es keine frommen, zum Himmel gedrehte Gesichter, umrahmt von Heiligenscheinen, zu sehen, sondern zarte Darstellungen von Elfen und Zwergen, eine verwunschene Zauberwelt mit Blumen, Käfern und Schmetterlingen, die Kinderherzen ganz besonders ansprach. Ich bekam diesmal sogar ein Bildchen geschenkt und war überglücklich. Dann brach der große Kappestag an.

Herr Kanapin war angekommen, im dunklen Arbeitsanzug mit einer flachen Ledermütze, die er bei der Arbeit aufbehielt. Er stammte aus Ostpreußen, wo er früher Herrenkutscher auf einem großen Gut war. Ein stattlicher Mann war er, der in damaliger Zeit durch seinen mächtigen weißen Vollbart auffiel. Er führte in Sackleinwand eingerollt seine Schürze und alles Werkzeug mit sich, womit er in vielen Häusern im Herbst seinen Dienst tat. Es waren eine große „Kappes-schaaf“ und ein scharfes Strunkeisen. Die Steingutfässer standen schon frisch ausgewaschen bereit, unsere größte Zinkwanne ruhte bereits erhöht auf einem Holzbock. Auf dem Tisch lagen parat: einige Pfund Salz, ein Holzstampfer, eine Schale mit Wacholderbeeren, selbst gesammelt bei Spaziergängen zur Munterley, einige frische weiße Leinenlappen, mehrere halbrunde Holzbretter und einige große Wackersteine. Wir Kinder mit anderen Spielkameraden aus der Nachbarschaft saßen erwartungsvoll am Rand des von Vater gemauerten Badebeckens.

Es ging los, nachdem sich Herr Kanapin die große Schürze umgebunden hatte. Er nahm einen Kappeskopf nach dem anderen zur Brust und stach geschickt mit seinem Spezialmesser den Strunk aus. Eine Delikatesse für die Kinder, die sich bald in eine Schar knabbernde Zuschauer verwandelte. Jetzt wurde die „Kappesschaaf“ über die Wanne gelegt und die Köpfe darüber gezogen. Sie wurden zusehends kleiner, während feine Streifen gehobelter Weißkohl in die Wanne fielen, die zu einem Berg anwuchsen. Sobald eine Anzahl Köpfe verarbeitet war, wurde mein Vater tätig. Er nahm den geschnittenen Kohl und schichtete ihn in den Steinguttopf, bestreute ihn mit Salz und bearbeitete die Lage mit dem Holzstampfer bis sich Saft zeigte. Darüber verteilte er Wacholderbeeren und so folgte Schicht auf Schicht, bis der Topf dreiviertel voll war.

Sorgsam wurde jetzt ein Leintuch darüber gelegt, darauf kam die Holzabdeckung, die aus zwei Hälften bestand und genau auf den Topf passte. Alles wurde mit den schweren Steinen beschwert. Jetzt trug er das erste Fass zum Reifen in den Keller, wo es sich allmählich zum so beliebten Sauerkraut entwickeln konnte. Alle paar Wochen würde Mutter dann die Leintücher sorgfältig auswaschen. Während Herr Kanapin fleißig weiter schabte, sagte Vater, indem er das zweite Fass vorbereitete: „In vier bis sechs Wochen ist es so weit, Kinder, dann gibt’s Sauerkraut, Gulasch und Mutters Spezialität: Kartoffelknödel!“ Mutter meinte lachend: „Aber erst geh ich noch in die Küche und mache Waffelteig!“ Wir leckten uns die Lippen. Denn Waffeln im gusseisernen Waffeleisen, direkt auf dem Feuer des Kohleherdes gedreht, gehörten mit zum großen Kappestag.

Nachdem die Arbeitsgeräte abgewaschen waren und sich die Kappesschneiderei wieder in unsere Badestube bzw. Waschküche zurückverwandelt hatte, saßen wir noch in gemütlicher Runde mit Herrn Kanapin und den Nachbarkindern in unserer großen Küche bei frischen Waffeln zusammen. Wobei Herr Kana-pin eine Reihe lustiger „Stückelchen“ aus seiner Arbeit als Herrenkutscher und „Kappesschneider“ zum Besten gab.