Kerzenschein und Muskelkraft

Gisela Bender, Deudesfeld

Im Volksmund heißt es trefflich: „Essen, das stehen bleibt, wird schlecht. Vergangenes, das nicht erzählt und aufgeschrieben wird, wird vergessen”.

Würde man das zulassen, dann ginge ein wichtiger Teil unserer Kultur verloren. Von je her waren die Eifeldörfer von klein strukturierter Landwirtschaft geprägt. Die Folge war, dass zu viele Menschen von dem Ertrag leben mussten, den ein paar Felder und Wiesen hergaben. Ausgangs des 19. Jahrhunderts führten schlechte Witterungsverhältnisse zu einigen Missernten hintereinander. Das bedeutete für die Familien im Dorf Mangel an der Ernährungsgrundlage. Kein Brot oder nur schlechtes. Man hungerte. Um diesem Dilemma zu entkommen, wanderten viele nach Amerika aus. Ende des 19. Jahrhunderts machte sich ein wirtschaftlicher Aufschwung bemerkbar. Dieser sollte bis ins 20. Jahrhundert hinein anhalten. Die deutsche Schwerindustrie, sowie die Hochöfen an Rhein und Ruhr begannen zu kochen. Eine Gelegenheit für die jungen Männer aus der Eifel, dort ihr Geld zu verdienen. Auch mehrere Deudesfelder verließen das Dorf, um auf diese Weise dazu beizutragen, dass ihre Familien zu Hause nicht mehr darben mussten. Mein Großvater väterlicherseits war einer von ihnen. Nachdem er eine feste Anstellung in einer Fabrik hatte, kam er nach Deudesfeld zurück, um sich von hier eine Frau mitzunehmen, die er 1906 heiratete. Sie hieß Elisabeth Thielen und stammte aus „Weischbesch” (Weiersbach). In Deudesfeld stand sie beim Stolda (Hotel zur Post) in Brot und Arbeit. Im dörflichen Dialekt hatte auch damals jedes Dorf sein eigenes Platt. So behielt meine Großmutter ihren schönen Namen weder in „Weischbesch” noch in „Deisselt” (Deudesfeld). In Weischbesch hieß sie Liss, und in Deisselt „Lies”. Jedenfalls waren die Deudesfelder damals so tolerant und erkannten, dass die Weischbe-scher Aussprache für diesen Namen sich schöner anhörte. So wurde in den folgenden Jahren aus meiner Großmutter „Schäijwa Liss”. Das junge Paar zog ins Ruhrgebiet. Drei Söhne wurden dort in Duisburg-Beek geboren. Obwohl die Versorgung der Familie durch die feste Arbeit ihres Mannes gesichert war, fühlte sich meine Großmutter dort nicht wohl. Jahrzehnte später erzählen ihre Söhne und spotteten, ihre Mutter habe Angst vor der Straßenbahn gehabt. In Wahrheit hatte die arme Frau ganz andere Probleme. Sie war keine Pflanze, die in einer Stadt gedieh. Sie hatte bäuerliche Gene im Blut, diese traten, vor allem im Frühjahr, wenn das bäuerliche Leben auf dem Land erwacht, zutage.

Wie muss sie ihrem Mann wohl zugesetzt haben, bis dieser sich bereit erklärte, mit der Familie zurück in die Eifel zu ziehen. In Deudesfeld musste die Familie ein altes enges Haus mit den Schwiegereltern teilen. Diese waren meiner Großmutter völlig fremd. Die Geschwister meines Großvaters waren raus geheiratet und hatten ihre Erbteile, Feld oder Wiesen, ‚mitgenommen’. So war die kleine Landwirtschaft noch kleiner geworden. Davon zu leben, würde nicht reichen, also musste der Großvater sich einen Zuerwerb suchen. Den fand er auf „Hasselt” in der Arenbergischen Waldwirtschaft. Der Weg dorthin war weit und die Arbeit schwer. Aber auch die Großmutter hatte es nicht leicht. Das tagtägliche Miteinander mit der Schwiegermutter funktionierte oftmals nicht. So kam es dann gelegentlich vor, dass sie die drei großen Kinder zusammen packte und zu Fuß über „Käpschet” nach Weiers-bach ging. Die Söhne haben es überliefert, weinend und klagend habe ihre Mutter sie durch Feld und Wald gezogen. Sie haben weiter berichtet, dass ihr Vater sie jedes Mal wieder nach zwei Tagen heim holte. Dann versprachen sie sich gegenseitig, dass es diesmal das letzte Mal gewesen sei, und dabei blieb es dann auch. Der Alltag meiner Großmutter muss sich im Großen und Ganzen so abgespielt haben. Im Winter stand sie jeden Morgen mit der „Bätglook” um 6.00 Uhr auf. Draußen wie drinnen in den Zimmern saß der Frost in dem Gemäuer. Während sie sich die kalten Sachen anzog, sah sie im matten Licht des anbrechenden Tages das Glitzern an den Wänden und die Eisblumen an den Fenstern. Leise, um die Kinder nicht zu wecken, tastete sie sich die Treppe hinab. Der Großvater wird es ihr gleichtun, denn er will morgens, bevor er in die Arbeit im Wald geht, den Stall misten und das Futter für das Vieh noch bereit legen. Derweil feuerte die Großmutter erst einmal den großen Küchenherd an, damit es nicht gar so kalt ist, wenn die Kinder kommen. Schnell lodern die trockenen Reisigbündel, nur ein wenig Zeitungspapier ist nötig. Mit allem muss sie sparen, Zeitungspapier ist rar. Jeden Tag eine Zeitung können sie sich nicht leisten, nur dreimal in der Woche. Nachdem man sie gelesen hat, wird sie in handliche Teile geschnitten und an einem Nagel im Häuschen mit dem Herzchen an der Tür festgemacht. Jedenfalls muss Großmutter nun die Kühe melken gehen. Tritt sie zur Haustür hinaus, sieht sie rechts und links die Nachbarn der gleichen Arbeit nachgehen. Man grüßt sich, ein paar Wörter übers Wetter, oder man erfährt eine Neuigkeit. Auf dem niedrigen dreibeinigen Kuhstuhl, den Eimer zwischen den Knien, zieht sie den letzten Tropfen Milch aus dem Euter. Als erstes erhält das Kälbchen seine Ration Milch. Der Rest wird durch ein weißes Leinentuch geschüttet. Einen Teil der Milch ist zum täglichen Verbrauch im Haushalt. Der Rahm wird abgeschöpft; wenn genug zusammen ist, wird davon die Butter gemacht. Die Magermilch wird mit gekochten Kartoffeln und Schrot gemischt und als Schweinefutter verwendet. Schließlich will man das Schwein im kommenden Herbst schlachten, man ist ja Selbstversorger.

Alsdann macht die Großmutter weiter mit dem Frühstück. In eine riesige Pfanne schneidet sie gekochte Kartoffeln und brät diese in Schweineschmalz. Für jeden, Mann und Kinder, kocht sie eine Tasse Milch. Mit den Kindern kommt Leben in die Stube. Nachdem sich alle in der Waschschüssel auf dem Spülstein gewaschen haben, fallen sie über die Kartoffeln her. Die Pfanne steht mitten auf dem Tisch und jedes der Kinder schaufelt sich seine Ration vor sich zusammen. Zum wiederholten Male stibitzt der eine vom anderen. Nachdem alle aus dem Haus waren, konnte die Großmutter sich dann selbst mal ein Butterbrot machen. Weil der Vater tagsüber nicht da war, mussten die Kinder der Großmutter bei den Arbeiten in der Landwirtschaft zur Hand gehen. Zum Beispiel bei der Kartoffelernte im Herbst, die alle mit der Hacke ausgemacht wurden. Dabei soll es den Jungen dann des öfteren an Arbeitseifer gemangelt haben. Es waren halt noch Kinder und hatten manchmal keine Lust, oder es war ihnen kalt. Dann soll die Großmutter gewettert haben und sie mit den Worten aufgemuntert haben „Kunner schrofft, am Bodden oss Feiher!” (Kinder grabt, im Boden ist Feuer!). Hatte sie während der Woche Ärger und wusste die Racker nur noch schwer zur Räson zu bringen, dann drohte sie ihnen: „Lott dier eier Vatter da novent hem kun, da kann de eich noch ees dähn Henna hauen!” (Lasst nur euren Vater heute Abend heim kommen, dann kann der euch den Hintern hauen!) Wenn der Vater am Abend dann müde das Haus betrat, wies ihn Großmutter gleich an, die Prophezeiung auch wahr zu machen. In solcher Situation fällte der Vater oft ein salomonisches Urteil, was beide Seiten ohne Hiebe respektieren konnten. Er wusste sehr wohl, dass von ihnen allen zu viel verlangt wurde. Neben der täglichen Arbeit hatte Großmutter noch für jede Woche eine Schwerpunktarbeit. In dieser Woche war die weiße Kochwäsche dran, nächste Woche die Buntwäsche, in der darauf folgenden Woche musste das Brot gebacken werden. Alle diese Arbeiten erforderten viel Vorarbeit. Die Wäsche wurde einen Tag vorher eingeweicht. Nachdem die Kochwäsche im Kessel gekocht war, wurde sie abgekühlt und jedes Teil auf dem Waschbrett gebürstet und geschrubbt. Diese Arbeit erforderte Muskelkraft. Das Brotbacken war nicht weniger aufwendig. Für all diese Arbeiten mussten Wasser und Holz herangeschleppt werden, und das alles neben den Tagesarbeiten.

Es gibt noch etwas über die Großmutter zu sagen. Neben all ihrer bäuerlichen Handwerkskunst hatte sie auch ein Händchen für Obstbäume. An der Südseite des Wohnhauses brachte sie Spalierapfelbäume an. Am daneben stehenden Hühnerstall waren es Birnenbäume, auf dem restlichen Anwesen pflanzte sie Pflaumen- und Mirabellenbäume. Auf dem Rodenberg besaßen die Großeltern eine kleine Parzelle, auf der, bis Großmutter andere Pläne damit hatte, nur Lohhecken wuchsen. Mit der Hacke und Pickel schuf sie dort drei Terrassen, auf denen sie Apfelbäume pflanzte. Ihre Nachkommen, ja sogar wir Enkel, haben das, was sie gepflanzt hat, geerntet.