Locken ohne Chemie, ohne Strom?

Großmutters Lockenschere

Winfrid Blum, Springiersbach

Meine Großmutter mütterlicherseits (geb. 1866) stammte aus Bitburg und lebte Jahrzehnte mit ihrer Familie in Daun. Dort gab sie in festgefügter Standesschichtung eine geachtete Person ab, war doch der ihr seit 1890 angetraute Ehemann der dortige Kreissparkassendirektor. Demgemäß lautete auch der Totenzettel (1959) „Frau ...... Witwe des Kreissparkassendirektors Johann Baur, Daun”. Der Stellung hatte Aussehen, Auftreten, Aufmachung und so weiter zu entsprechen; und dazu gehörte wohl immer ein - in Maßen - gelockter Kopf oder genauer: die Haartracht musste mit Hilfe von Locken einen besonders reizenden, gepflegten, das Gesicht einrahmenden oder bekrönenden Blickfang darstellen, nicht zu auffallend und zu aufwändig, sondern zurückhaltend und angemessen vornehm. Das alles trat in mein Bewusstsein, als ich - wohl selbst noch in natürlicher Lockenpracht - zufällig in Großmut-ters Umfeld eine Lockenschere entdeckte. Dieser Fund wurde bestimmt von einem enkelhaften Freudenschrei begleitet: zwei zu- und auseinander bewegliche Teile, durch Niete oder Schraube miteinander verbunden (Schere eben), jenseits dieses Drehpunkts anders als bei einer „richtigen” Schere das untere Teil wellblechförmig verformt, das obere zwei Metallstäbe, die sich in die Wellblech-Täler beim Zuklappen einschmiegten! Den Zweck konnte der kleine Entdecker nicht kennen, aber großmütterliches Ahnen bevorstehender Gefahren oder auffallende Ruhe im Schlafzimmer ließen die Großmutter ganz plötzlich auf der Bühne erscheinen, bestimmt mit einem temperamentvollen Kehllaut. Aber der pädagogische GroßmutterTrieb siegte über etwaige so-fort-erzieherische Maßnahmen und versprach, die nützliche Anwendung bei nächster Gelegenheit zu demonstrieren.

Winfried Blum mit seiner Großmutter, 1934

Die Gelegenheit kam. Großmutter ergriff Lockenschere und Enkel und zog mit beiden zum Küchenherd. Dort war, die Aktion vorbereitend, aus verbranntem Holz ein kleiner Gluthaufen auf dem Feuerrost aufgeschichtet. Routinierte Hand platzierte den Kleinen in sicherem Abstand, das heißt, weit genug von Großmutter und Glut entfernt, wischte die Schere an einem Zeitungsblatt ab, öffnete die Ofentür und legte den vorderen Teil der Schere auf beziehungsweise in die Glut. Nicht lange, dann fasste Großmutters rechte Hand die Schere an ihren Griffen, die linke wiederum die Zeitung zum Abwischen und führte den zwar nicht glühenden, aber heißen Vorderteil Richtung Kopf. Dazwischen lag irgendwo noch der Schritt vor einem großen Spiegel, so dass der Enkel seine Oma gleichzeitig in Natur und im Spiegelbild sah. Und was er da sah: die heiße Schere schob sich vorsichtig mit dem Unterteil in die Haarpracht -tunlichst ohne Berührung der Kopfhaut -, verschwand darin, und der obere Teil legte sich mit seinen Stangen auf die Haare und drückte sie in die gewellte Unterform. So verharrten das geschlossene Gerät und die Haare eine gemessene Zeit, die Schere ging auf, wurde vorgezogen und auf dem Kopf lag die kleine Haarwelle!

Das machte Großmutter oder deren im Haus greifbare Tochter in vielfachem Wiederholungsgang: Locken in Längs- und Querrichtung, in Verlängerung der Nasenlinie, zur Verbindung der Ohren, zur Überleitung ins Nackenkraushaar usw. usw. Jedenfalls war der Enkel nun über die Nützlichkeit und Funktionalität einer Lockenschere aufgeklärt. Er bemerkte auch, wenn ein Haar an der Schere beim Wiedereinlegen ins Glutbett zischend verschmorte, dass das roch und stank wie beim Hufschmied. Von Großmutter erfuhr er auch den Knittelvers: Mädchen, brenn’ Dir Locken, sonst bleibst Du hocken, und bleibst Du dennoch hocken, so waren’s schuld die Locken! Vorhandensein und Qualität der Lockenpracht waren also entscheidend. Wenn der alte Enkel sich heute seine Großmutter mit ihren lebendigen braunen Augen vorstellt, kommt er eher zu dem Schluss, sie wäre auch ohne Locken nicht hocken geblieben. Aber was machte damals ein „hocken gebliebenes” Mädchen? Es gab noch ein (letztes?) Mittel: die Wallfahrt nach Klausen zum heiligen „Komm-hol-mich”! Doch das ist ein anderes, ein weites Feld. Mit der Haarpflege und dem Lockenbrennen war noch ein Spruch der von ihren Enkeln viel zitierten Großmutter verbunden: „Ein bisschen eitel hält sauber!” Kleinen, überall herumtobenden Enkeln musste das bestimmt öfters gesagt werden.Die Lockenschere brauchte weder elektrische Energie noch chemische Zutaten. Ihre physikalischen Regeln folgende Wirksamkeit haben bis in die heutige Zeit zum Teil die Lockenwickler übernommen.

Großmutter Baur von Winfried Blum, 1934