Ein Jahrhundert der Wandlungen

Peter Jakobs, Simmern

Meine Großmutter Klara Jakobs aus Niederbettingen hatte mit viel Liebe und großem Einsatz über 40 Jahre lang den Beruf einer Hebamme im ländlichen Raum ausgefüllt. Kurz vor ihrem Tod 1939 überbrachte ein Abgesandter des Regierungspräsidenten aus Trier ihr die Ehrenurkunde, die fortan die gute Stube zierte. Die Zeit ihrer Tätigkeit als Hebamme berührte die bewegte Zeit um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert, den Ersten Weltkrieg, die Inflationszeit und die Zeit der Machtübernahme der braunen Machthaber mit den Vorbereitungen des II. Weltkrieges. Zu ihrem Bezirk gehörten die Umlandgemeinden bis hin nach Auel, Scheuern, Kalen-born, Müllenborn und darüber hinaus. Die Entbindungen fanden damals fast ausnahmslos zu Hause statt. So musste unsere Oma in der Vorbereitung die werdende Mutter aufsuchen, dann die Niederkunft abwarten und anschließend noch bis zu neun Tagen die junge Mutter und ihr Kind pflegen. Man stelle sich vor: Eine Hebamme in einem Eifeldorf ohne Telefon, ohne Kraftfahrzeug und ohne öffentliche Verkehrsmittel; alle diese Wege zu den oft weit entfernt liegenden Ortschaften mussten weitgehend zu Fuß zurückgelegt werden. Und diese oft zur Nachtzeit - die Niederkunft ließ sich damals noch nicht festlegen. Die Hebamme wurde oft in der Nacht durch ein Familienmitglied der jungen Mutter abgerufen und begleitet. Dann klopfte es bei uns an die Haustüre oder ans Fenster, und man begab sich dann dorthin, wo man auf das freudige Ereignis wartete. Oftmals gab es Probleme, wenn gleichzeitig mehrere Mütter auf die Entbindung warteten. In Niederbettingen gab es bis zum Zweiten Weltkrieg einen öffentlichen Telefonanschluss - „Hillesheim 317” -, der nur tagsüber besetzt war. Ganz allgemein brachte das 20. Jahrhundert für die Menschen in der Eifel so zahlreiche und grundlegende Veränderungen, wie kein anderes zuvor. Sie betrafen alle Lebensbereiche.

Zu Beginn des Jahrhunderts ging man noch alle Wege zu Fuß. Das Wasser wurde aus Brunnen geschöpft, so auch in Niederbettingen. Beim schwachen Schein der Öllampe, der einzigen Beleuchtung im Hause, spannen die Frauen Wolle und Flachs für Kleidung, Bettzeug und Mehlsäcke. Die Männer droschen das Getreide mit dem Dreschflegel. Man schlief noch in selbst hergerichteten Betten auf Stroh und Haferspreu, zu zweit und oftmals auch zu dritt in einem Bett. Die Schulkinder hatten täglich vormittags und nachmittags Unterricht, nur der Samstagnachmittag war frei. Die Schulferien richteten sich nach dem Erntebeginn. Was man zum Leben brauchte, wurde zum größten Teil selbst angebaut, hergestellt oder von den Handwerkern im Ort angefertigt. Bargeld kam dann und wann ins Haus durch den Verkauf von Stalltieren. Die meisten Männer suchten einen Zuverdienst, zum Beispiel durch Arbeit im nahen Steinbruch oder im Winter als Waldarbeiter. Mein Großvater, Ehemann der Hebamme, hatte den Schneiderberuf erlernt und erzielte im Hause ein Nebeneinkommen. Die Dörfer waren weitgehend bäuerlich. Die Familien lebten im eigenen Haus, das neben dem Wohnteil Stall und Scheune hatte. Die kleinen zweiflügeligen Fenster waren in Rauten aufgeteilt und hatten oben ein Fensterchen zum Lüften.

Auf den Speichern lagerte das Getreide, wo es auf natürliche Weise trocknen konnte. Vor den Häusern auf dem Hofplatz standen der große hölzerne Ackerwagen, Pflug und Egge. Dort befand sich auch der Holzplatz, wo im Frühjahr der Stoß Brennholz lagerte, bis die Stücke in oft mühevoller Kleinarbeit auf dem Holzblock zersägt, mit der Axt gespaltet und die Scheite im Schuppen aufgeschichtet wurden. Nahe beim Stall lag der Mistplatz, wo der Kuhdünger lagerte, eine wichtige Grundlage für die Bodenfruchtbarkeit der Äcker. Erst zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wurden mit staatlicher Hilfe Jauchegruben bei den Häusern gebaut. Die ersten Jauchepumpen und Jauchefässer waren noch aus Holz und wurden vom Stellmacher hergestellt. Vor oder neben den Häusern waren Obstbäume und Gemüsegärten. Ein Lattenzaun schützte die Gärten vor Hühnern. Bei gutem Wetter wurden viele Arbeiten vor dem Haus verrichtet. Die Frauen saßen oft auf der Bank vor der Haustüre, schälten Kartoffeln und pellten Bohnen. Die Dorfstraßen waren noch mit Kies bestückt. Sie wurden in der Regel alle zwei Jahre mit der Dampfwalze geglättet und jeden Samstag mit dem Birkenbesen gekehrt. An ihren Seiten befand sich eine Rinne für das Regenwasser. Im Winter waren diese Kanäle Eis- und Schlittenbahnen für die Kinder, auf denen es oft bis in die späte Nacht rund ging.

Die Wohnungen waren nur spärlich mit Möbeln und Geräten ausgestattet. In der Stube oder Küche stand der große Tisch mit Bank und Stühlen, um den sich dreimal täglich die oft zehn- oder zwölfköpfige Familie zu den Mahlzeiten versammelte. In der Küche befanden sich ein Schüsselbrett, eine Eimerbank mit Eimern aus Zinkblech, ein eiserner Herd mit abnehmbaren Ringen, gusseiserne Pfannen, das hölzerne Butterfass und Milchkrüge aus Steingut. Alle Möbel bestanden aus Holz und waren vom Schreiner hergestellt. Noch in den dreißiger Jahren kam es vor, dass in einem Haus noch kein Kleiderschrank war. Das gute Kleid wurde oft in einem Pappkarton unter dem Bett aufbewahrt. Im Herbst 1933 wurde in Niederbettingen eine Wasserleitung gebaut. Ein Wasserhahn kam in die Küche und ein zweiter meist in den Stall. Einen Zähler hatte man noch nicht - vorerst wurde pauschal abgerechnet. Die Wasserleitung brachte große Erleichterung beim Wäschewaschen. Samstagabends wurden in den meisten Küchen die Waschbütten hervorgeholt. Jetzt wurden die Kinder nach und nach gebadet.Auf Badezimmer mit Toilette musste man noch bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg warten.