Der lange Spaziergang des Urgroßvaters

Christine Kaula, Wipperfürth

Heute, am Sonntag, hat der Urgroßvater Johann Josef Rätz aus Bodenbach sich noch einmal aufgemacht und das Grab seiner ersten Frau besucht. Auf dem Rückweg macht er an dem uralten Sauerbrunnen von Bodenbach eine Rast. Im Schatten eines alten Quittenbaumes sitzt er da, die Hände auf den Knauf seines Stockes gelegt. Die Früchte sind reif, und die Zweige hängen tief, fast berühren sie sein weißes Haar. Er ist ins Sinnieren gekommen, das passiert ihm in den letzten Monaten immer öfter. Man schreibt das Jahr 1904, am 17. Januar ist er achtzig Jahre alt geworden. Die Knochen wollen schon lange nicht mehr so recht, aber er hat sich immer noch zusammengenommen und seine Arbeit tun können. Viel ist es nun nicht mehr, auch hat er nicht mehr so rechte Freude daran. Das Gegenwärtige tritt immer mehr in den Hintergrund, Schatten treten aus der Vergangenheit hervor und wollen wieder lebendig werden. Seine Frau wartet sicher schon auf ihn auf dem kleinen Hof, den sie mit dem Rest der Familie bewirtschaften. Sie macht sich Sorgen um ihn, er weiß das, aber sie sagt es nicht laut. Ein langes Leben hat er hinter sich gebracht, hart und voll Arbeit ist es gewesen, frohe Zeiten und traurige Zeiten hat er erlebt, wie es halt so ist. Nun will er sich auf ein neues Leben bei seinem Herrgott rüsten. Es muss wohl wahr sein, was der Pfarrer ihnen immer sagt, dass man erst im ewigen Leben für alle Mühsal belohnt wird. Was hätte die ganze Plackerei auch sonst für einen Sinn gehabt?

1824 ist er geboren worden, sein Vater hat ihm erzählt, dass es damals noch gar keine Eisenbahn gab. Der erste Dampfzug fuhr erst 1835 von Nürnberg nach Fürth. Aber selbst ist er auch nicht viel auf der Bahn gefahren in seinem Leben. Wenn man reist, vielleicht zum Markt nach Hillesheim, wird das Pferd angespannt, es tun sich mehrere Leute zusammen, damit es sich lohnt. Ansonsten kommt man kaum aus dem Dorf, es sei denn, man geht auf Wallfahrt. Zum Beispiel nach Langenfeld zum Heiligen Jodokus oder nach Barweiler zur Lilienmadonna. Da werden weite Fußwege in Kauf genommen. Der Urgroßvater besitzt allerdings eine Ansichtskarte, die er im Oktober 1900 aus dem Heiligen Land bekommen hat. Da hatte der Johann eine so weite Reise mit einer Pilgergruppe nach Rom und sogar ins Heilige Land machen können! Am Grab des Heilands sind sie gewesen, was muss das für eine wunderbare Erfahrung gewesen sein! Wer so etwas erleben kann! Johann seufzt leise auf.1 Einen Kaiser hatten sie auch noch nicht gehabt in seiner Jugend, sondern einen losen Staatenbund von siebenunddreißig souveränen Fürsten und vier freien Städten. Den Deutschen Bund nannte man ihn, der dann bis 1866 gehalten hat. So langsam begann die neue Zeit, die Industrialisierung. Sicher, hier in Bodenbach hatte man nicht so viel davon gemerkt, auch nicht von der Revolution 1848, das war schnell vorbei. Besser wurde es danach auch nicht. Manche jungen Leute gingen zum Arbeiten in die Städte, aber nicht viele. Manche sind auch zurückgekommen, aus Heimweh nach der Eifel, oder weil es keine Arbeit mehr gab.

Er heiratete 1857 zum ersten Mal eine Frau aus Borler, die Maria-Eva. Marie hat er sie gerufen und sie war eine gute Frau. Aber sie starb 1869, und er hat sie aufrichtig betrauert. Doch schon im Trauerjahr be-schloss seine Familie, dass er wieder heiraten sollte, schon der Kinder wegen. Die AnnaMaria aus Kelberg wurde ausgesucht, sie war damals schon siebenunddreißig Jahre alt und er ein Mann von fünfundvierzig. Und trotzdem haben sie noch eine Tochter bekommen, die Kathrin. Ja, so war das in der Familie, man traf keine Entscheidung allein, die Familie redete immer mit. Und das war vielleicht auch gut so, denn sonst hätte er sich vielleicht keine andere Frau mehr gesucht. 1870 haben sie geheiratet, in dem Jahr war der deutschfranzösische Krieg. Ein Jahr später wurde Wilhelm I. zum deutschen Kaiser ausgerufen, da gab es plötzlich ein Deutsches Reich. Im Völkerbund gab es Krisen über Krisen. Auch hörte man, dass es in Amerika einen großen Krieg gegeben haben sollte, die Nordstaaten hätten die Südstaaten bekämpft. Aber Amerika war ja so weit weg, in Bodenbach hat das niemand besonders aufgeregt. Die Zeiten um 1870 herum waren schlecht. Die Bevölkerung vermehrte sich rasch, die zunehmende Industrialisierung brachte bei weitem nicht genug Arbeit und Brot für alle. Damals war es, als Massenauswanderungen nach Amerika begannen und Millionen Menschen Deutschland verließen.

Oh, was war nicht alles erfunden worden in den Jahren? Das elektrische Licht, die Fotografie, der Telegraph, das Telefon, der Dampfpflug … Unerschwinglicher Fortschritt! Im Dorf gibt es noch kein Telefon, und wer besitzt einen Fotoapparat? Wem sollte man wohl eine Depesche schicken? Der Dampfpflug wird in Amerika oder auf den großen Gütern im Osten gebraucht. Was Elektrizität ist, weiß man natürlich, denn man hatte oft genug erfahren müssen, was Blitzschläge bewirken können, aber es gibt kein elektrisches Licht im Dorf, obwohl es in den großen Städten abends schon hell ist wie am Tag. Das Dorf ist nicht groß: 1817 lebten hier 77 Menschen. 1854 waren es immerhin schon 207 und jetzt, 1904, sind es 270… Der Urgroßvater hat sich einmal mit dem Lehrer über die Elektrizität unterhalten. Der hatte ihm erzählt, dass im Jahre 1775 Allessandro Volta die Herstellung von elektrischem Strom gelungen ist, aber zu der Zeit konnte er noch nicht nutzbar gemacht werden. Erst als Werner Siemens im Jahre 1866 das elektrodynamische Prinzip und die Dynamomaschine erfunden hatte, war dies möglich. Von da an ging es aber rasch vorwärts. 1879 gelang es Thomas Alva Edison, die erste moderne Glühlampe mit Schraubfassung und Kohlefaden herzustellen. Er errichtete 1881 in New York das erste elektrische Kraftwerk der Welt. In Deutschland wurden ab 1885 elektrische Kraftwerke gebaut, natürlich nur in den Großstädten. Damals kannte man nur den Gleichstrom. Erst als man weite Entfernungen ohne große Spannungsverluste überwinden konnte, wurden immer mehr Haushalte an elektrischen Strom angeschlossen. Das bedeutet jedoch noch lange nicht, dass die Leute auf dem Land schon bald werden über elektrischen Strom verfügen können. Dazu fehlt es den Gemeinden auch an Geld.2 Er schaut zum Himmel auf. Die Tageshelligkeit, also die Sonne, bestimmt den Lauf des täglichen Lebens. Die Sonne steht tief, es mag schon sechs Uhr sein. Zeit, nach Hause zu gehen.

Er macht sich auf den Weg. In dem Anwesen, das unterhalb vom Lenze Haus liegt, in das seine Tochter Kathrin im vergangenen Jahr eingeheiratet hat, stellt er seinen Stock hinter die Haustür und tritt in die Stube. Seine Frau steht am Herd und rührt im Suppentopf. Nachdenklich betrachtet er sie, den Herd und den leeren Holzkasten. Holz wird er jetzt holen, damit das Feuer nicht ausgeht, das kann er schon noch tun. Er schleppt einen Korb voll Buchenscheite in die Küche und lässt sie in die Holzkiste fallen. Seine Frau trägt die Suppe auf, und er setzt sich nieder. Mit seinem blaurot gewürfelten Sacktuch wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Dass jede kleinste Anstrengung ihn zum Schwitzen bringt? Früher war das doch nicht so, er war stark, ein ganzer Kerl! Ja, wie war es denn früher gewesen? Wie hatten sie geschafft den ganzen Tag, vom Morgengrauen bis zum späten Abend? Sein Kopf sinkt vornüber, er taucht ein in den leichten Schlaf, der alte Menschen oft unvermittelt überfällt … ein Morgen graut, und in aller Herrgottsfrühe geht es in den Stall, um das Vieh zu füttern, seine Frau facht das Feuer im großen Herd an, und folgt ihm, um zu melken. Danach bereitet sie Malz- oder Zichorienkaffee zu. Eine Suppe aus Milch und Mehl und einem Kanten Brot vervollständigt die Morgenmahlzeit. Das aufflackernde Feuer beleuchtet ihre müden Gesichtszüge, die schon früh scharf gezeichnet sind von der harten körperlichen Arbeit. Mühsam bückt sie sich und schiebt ein paar Scheite mehr in den Herd. Dieses Ungetüm, das groß und breit ist, und einen großen Wasserbehälter an der Seite hat, das also immer warmes Wasser enthält, dient aber nicht nur zum Kochen. Es ist Heizung im Winter, darauf werden die Mahlzeiten, aber auch die Wäsche und das Schweinefutter gekocht. Auf ihm erhitzt man das Bügeleisen und trocknet die Wäsche im Winter auf Stangen, die oberhalb des Herdes befestigt sind. Der Herd ist das wichtigste Hilfsmittel der Bäuerin. Im Winter ist es sicher angenehm, am heißen Herd zu stehen. Aber in der Sommerhitze: Die Hausfrau steht da mit hochrotem Gesicht, Schweißperlen auf der Stirn, die langen Ärmel des Kleides hochgeschoben (sie trägt, wie alle Frauen im Dorf, natürlich nur Kleider mit langen Ärmeln, und der Saum des Kleides reicht bis auf die Holzpantinen hinunter). Der Frauenkörper ist bedeckt vom Hals bis zu den Füßen, die Haare unter einem Tuch verborgen. So ist es Sitte und Brauch. Neben dem Herd steht ein großer Zinkeimer mit frischem Wasser aus dem Hausbrunnen, aus dem sie mit einem Schöpflöffel einen Kessel füllt. Die Römer kannten schon Wasserleitungen, die Gelehrten hatten genug Reste ausgegraben, aber man träumt in dem kleinen Dorf noch lange davon, fließendes Wasser in die Häuser und die Ställe zu bekommen. Wie eh und je benutzt man die Hausbrunnen oder die Viehtränke unten im Dorf. Das Wasser muss mechanisch heraufgepumpt werden, viele, viele Liter im Laufe eines Jahres, zum Kochen, zur Viehtränkezum Waschen.3

 

Familien-Hochzeit Kaul, 1926

Die Urgroßmutter geht in den Keller, um Butter und Brot zu holen. Eigentlich wird ja alles, was man braucht, selbst hergestellt. Die Hauptnahrungsmittel werden ohnehin selbst erzeugt, das Brot selbst gebacken, Fleisch erhält man durch das Schlachten von Geflügel, von Schweinen oder Rindern, man hat Milch, also auch Butter, Quark und Käse. Im Garten wird das Gemüse gezogen, Kartoffeln werden auf dem Feld angebaut, Obst bringen die Apfel-, Pflaumen-und Birnenbäume. Äpfel und Birnen trocknet man gewöhnlich und hängt sie entkernt als Ringe an Leinen auf. Dann sind sie lange haltbar und dienen mancherlei Gerichten als Beilage oder werden auf die „Taat“ gelegt, einem typischen Eifeler Backwerk, das zu allen möglichen Festlichkeiten, aber auch zu Totenfeiern, gereicht wird. Aus den Pflaumen wird Mus gekocht. Das Kühlen und Haltbarmachen der Lebensmittel ist eine besondere Kunst. Auch deshalb wird im Winter geschlachtet. Das Fleisch wird eingesalzen, gepökelt oder geräuchert. Dies nimmt geraume Zeit in Anspruch, je nachdem, ob es sich um große oder kleine Fleischstücke handelt oder sogar um einen ganzen Schinken. Auf jeden Fall erfordert es die ganze Aufmerksamkeit der Hausfrau, es muss öfter gewendet werden und neu mit der Salzlake begossen werden. Diese muss so salzig sein, dass eine Kartoffel oder ein Ei darauf schwimmen kann. Natürlich kennt man auch die Kunst des Einkochens. Brot, Eier, Käse und Butter werden im Keller gelagert, da es dort kühl ist und sich diese Lebensmittel länger halten, oder in kühlen, fensterlosen Speisekammern. Dafür gibt es eine Reihe verschiedenster Behältnisse aus Steingut, Ton oder Holz. Blechdosen für Tee, Zucker oder Gebäck, Mehlbehälter aus Zinn usw.4 Ein paar Schafe sind auch da, aus deren Wolle Strümpfe und anderes gestrickt wurde. Flachs wird angebaut, um Leinen herzustellen. Wenn große Wäsche ist, bedarf dies langwieriger Vorbereitungen. Das Waschen selbst ist aber auch Schwerstarbeit. Die Waschlauge wird selbst gefertigt, indem die Hausfrau Wasser durch Holzasche laufen lässt und dann durch ein Tuch seiht. In ein Fass, das am Boden Löcher hatte, wird eine Schicht Kies gelegt. Das Fass wird sodann mit Holzasche aufgefüllt. Dann lässt man Wasser hindurch laufen. Nach längerer Zeit tröpfelt das gefilterte Wasser durch die Löcher am Boden heraus. Durch Kochen wird die Lösung so verdickt, bis sie so konzentriert ist, dass ein Ei darauf schwimmen kann. Mit dieser Lösung wird die Wäsche im Waschtrog gereinigt. Die Wäsche wird eingeweicht, gekocht, gestampft oder geschlagen und dann gespült und aufgehängt. Zum Stärken der Wäsche dient Weizenoder Kartoffelmehl. Gebügelt wird die Wäsche mit einem Kastenbügeleisen, in das Kohle eingefüllt wird. Aus der Lauge wird auch Seife hergestellt. Die Lauge wird mit Fett oder mit Öl gemischt und lange Zeit auf dem Feuer gesiedet. Beim Abkühlen wird Salz hineingerührt, das die Seife aushärtet. Diese Seife wird dann in Holzgefäße geschüttet, mit Duftstoffen, meist Kräuter, angereichert und härtet dann vollends aus.5

Im Sommer sind sie nach der Arbeit im Stall ins Feld gegangen zum Heumachen, zum Rübenverziehen oder zum Mähen, je nachdem, was gerade anstand. Die technischen Hilfsmittel des Bauern sind sehr gering: Ein Pflug, ein Wagen mit Speichenrädern, vor den die Kuh gespannt wird, eine Karre zum Ausmisten, Mistsprenger, ein paar Mistgabeln, Rechen, Sensen und Sicheln, diese Gerätschaften sind das Handwerkszeug des Bauern. Es ist derbe, schwere Handarbeit. Die Verfügbarkeit der Naturprodukte ist ausschließlich abhängig von der Witterung. Gibt es einen zu trockenen oder zu nassen Sommer, hat man Ernteausfälle, die sich wiederum auf die Lebensqualität niederschlagen. 1893 war der Sommer so trocken, dass es das Gras auf den Wiesen verdorrte und das Vieh darben musste. Vor der Zeit wurde geschlachtet. Es hält manches Jahr schwer, das Vieh durchzubringen. Bevor es Zentrifugen gab, wurde die Milch in flache Wannen gegossen. Der Rahm setzte sich oben auf der Milch ab und wurde regelmäßig abgeschöpft. Dazu gab es gewölbte leichte und durchlöcherte Abscheider, die Schaumlöffeln ähnlich sehen. Gebuttert wurde in einem Stoßbutterfass. Es war aus Holz gefertigt, der Rahm wurde mit einem Stößel, der auf und ab bewegt wurde, so lange gestoßen, bis die Sahne zu Butter klumpte und herausgenommen werden konnte. Später gab es die so genannten Drehbutterfässer. Sie hatten den Vorteil, dass das Auswaschen der Butter einfacher war.6

Ansichtskarte aus dem damaligen Palästina, 1900

Manchmal sitzt man abends draußen vor dem Haus, die Frauen nie untätig, Handarbeiten oder Gemüseputzen, eine Frau hat immer zu tun. Sie sitzen auf der Bank vor dem Haus, eine große Wanne voll Erbsen vor sich, die geschotet werden müssen. An guten Abenden werden die alten Volksweisen gesungen, oder es wird erzählt. Die Männer tauschen Neuigkeiten aus. Nachrichten kommen auch durch die wandernden Hausierer ins Dorf, die die Häuser aufsuchen, um Kurzwaren für die Hausfrau, vielleicht Tabak für den Bauern und anderes anzubieten. Da ergeben sich Gespräche, da werden Informationen, deren der eine oder andere habhaft werden konnte, ausgetauscht. Die Postkutsche kommt ins Dorf und bringt, abgesehen von Briefen und Paketen, auch Neues aus der Welt. Im Winter spinnen die Frauen abends Wolle, jeder Haushalt besitzt ein Spinnrad. Ursprünglich wurde mit der Handspindel gesponnen. Dabei befestigte man den Faden der Rohwolle am Ende der Spindel. Während die Spindel sich drehte, wurden die Wollfasern zu einem langen Faden zusammengezwirnt. In Drehung gehalten wurde die Spindel durch ein Gewicht am unteren Ende. Eine sinnvolle Weiterentwicklung war das Spinnrad. Das Spinnrad bestand aus dem Rad, einem Fußpedal und der Spindel. Mit dem Fußpedal wurde das Rad angetrieben und die Spinnerin hatte die Hände für das Garn frei.7 Nach der Tagesarbeit gehen sie im Winter „mit den Hühnern schlafen“. Im Winter tastet man sich mittels einer Kerze in den eisigen Schlafraum und legt sich - vielleicht gewärmt durch eine kupferne Wärmeflasche - zum Schlafen. Und wie ernüchternd ist das Erwachen und Aufstehen am anderen Morgen in dem Zimmer mit bereiften Wänden, dick mit Eisblumen bedeckten Fenstern, das Waschwasser in der Schüssel ebenfalls von einer Eisschicht bedeckt.

In den Zimmern brennen Öllampen, Petroleum oder Kerzen. Aber Kerzen sind teuer. Wachsfäden werden in Schweinefett gesteckt, das bringt auch Licht, wenn’s dann in der Nacht einmal hell sein muss. Aber normalerweise schläft man, todmüde und erschöpft von der Arbeit, kriecht sommers wie winters auf die stroh- und streugefüllte Matratze unter ein Federbett, das die Hausfrau selbst mit Enten- oder mit Gänsefedern gefüllt hat. Und solch ein Deckbett muss ein Eheleben lang halten. Vielleicht ist es aber auch ein Deckbett aus Schafwolle, das wärmt besonders gut, nutzt sich aber mit der Zeit ab, wird dünn und muss nachgefüllt werden. Diese Dinge werden natürlich nicht käuflich erworben, sondern im Haus selbst gefertigt. Krankenversicherungen gibt es nicht: Also wird in Krankheitsfällen auf Hausmittel zurückgegriffen. Kräuter werden gesammelt, Salben selbst hergestellt. Bei Bauchschmerzen trinkt man Kamillentee, in den man einen Löffel Honig einrührt, oder man macht einen Leibumschlag. Gegen Husten hilft Brennnesselsaft oder der Sud von jungen frischen Brennnesseln. Erfrorene Füße behandelt man mit Zwiebelwasser. Bei Halsschmerzen wird ein getragener Socken um den Hals gewickelt. Man macht Brusttee aus Spitzwegerich, Lungenkraut und Huflattich, behandelt Rheumatismus mit einem Gemisch aus Bärentraubenblättern, Melissenblättern, Holunderblüten und sonstigen Kräutern, versucht Verbrennungen mit Fett oder aber auch mit rohem Eiweiß zu heilen oder legt Kartoffelscheiben auf.8 Natürlich werden die Kräuter im Sommer gesammelt und getrocknet, so dass stets ein Vorrat im Hause ist. Auch werden weise Frauen zu Rate gezogen, der Rat von Hebammen ersetzt oft genug den Arzt, der Geld kostet und mit Pferd und Wagen fährt. Der Aberglaube ist groß und die Gewissheit, dass man Krankheiten „besprechen“ oder „wegbeten“ kann. … Der Urgroßvater ist genauso plötzlich wieder erwacht, wie er eingeschlafen war und geht nach dem Abendgebet noch einmal vors Haus, um nach dem Wetter zu sehen. Armselig die Sträßchen, die von Asphaltierungen noch nichts wissen, jeden Tag von neuem bedeckt mit Kuhfladen, in Regenzeiten die reinsten Schlammpfuhle. Rinnen, die das Regenwasser ableiten sollen, und es dennoch nicht schaffen. Misthaufengeruch in der Luft, den auch die reine Eifeler Luft nicht aus dem Dorf vertreiben kann. Ihm fällt ein, dass er noch nach den Bienen schauen könnte und begibt sich in den Garten. Seine Bienen werden in Körben aus Stroh gehalten. Diese Körbe werden aus langem Weizen- oder Roggenstroh selbst gebunden und stehen in einem Bienenhäuschen, denn sie sind ja nicht wasserdicht. Wenn man den Honig herausnehmen will, stülpt man einen Korb auf den Bienenkorb und jagt die Bienen hinein. Dann nimmt man die Waben aus dem Korb heraus, entfernt die Bienenlarven und schleudert den Honig aus. Manchmal überlebt das Bienenvolk, manchmal auch nicht, denn es ist nun seiner Behausung und seines Futters beraubt. Aber es gibt auf dem Lande Tausende von Bienenvölkern, so dass es nicht weiter tragisch scheint, wenn ein Volk nicht überlebt.9 Er sieht, dass es gut mit den Bienen steht und freut sich darüber, denn er liebt seine Bienenvölker sehr. Nun kann er beruhigt schlafen gehen.10

1 Im Nachlass der Familie befindet sich tatsächlich eine Ansichtskarte, die möglicherweise jemand aus der Verwandtschaft, vermutlich aber einer der damaligen Bürger von Bodenbach oder Borler an den Urgroßvater geschickt hat. Sie trägt den noch lesbaren Poststempel vom 19.10.1900. Adressat ist Johann Josef Rätz, also der Urgroßvater. Der Absender war mit einer Pilgergesellschaft nach Rom und dann ins Heilige Land, also nach Palästina, gezogen, und hatte diese Karte, die das damalige Nazareth zeigt, von Jerusalem nach Bodenbach geschickt. Er schrieb: „Die 500 deutschen Rom-Jerusalem-Pilger hielten hier heute den Einzug und wallfahrten zur Grabeskirche, in welcher der Heiland im Grabe ruhte. Etliche Schritte davon küssten wir den Stein, auf dem Jesus gleich nach seinem Tode gesalbt wurde.“ Die Karte trägt das Datum vom 4. Oktober 1900 und ist mit: „Herzlichen Gruß Johann“ unterzeichnet. Es war gewiss eine lange, lange Reise, die sich über Wochen, wenn nicht Monate hingezogen hat. Hatte der Pilger ein bestimmtes Bitt- oder Bußanliegen? Wie hatte er diese gewiss doch teure Reise finanziert? Diese Fragen können leider nicht mehr beantwortet werden.

2 Es werden noch Jahrzehnte vergehen, bis auch das letzte Eifeldorf mit elektrischem Strom versorgt ist.

3 In Bodenbach werden die Haushalte erst 1950 durch eine öffentliche Wasserleitung versorgt.

4 John Seymour, Vergessene Haushaltstechniken, Otto Maier Ravensburg, 1988

5 John Seymour, Vergessene Haushaltstechniken, Otto Maier Ravensburg, 1988

6 John Seymour, Vergessene Haushaltstechniken, Otto Maier Ravensburg, 1988

7 John Seymour, Vergessene Haushaltstechniken, Otto Maier Ravensburg, 1988

8 aus: Was tut man wenn … 600 preisgegebene Geheimnisse, Th. Väth, Druck und Verlag (ohne Jahreszahl und weitere Angaben)

9 John Seymour, Vergessene Haushaltstechniken, Otto Maier Ravensburg, 1988

10 Er wird, zäh wie er ist, noch ein Jahr leben, am 14. September 1905 aber im Vertrauen auf seinen Gott in die ewige Seligkeit abberufen werden. Seine Frau überlebt ihn noch um vierzehn Jahre und stirbt ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges.