Unser Radio

Tamara Retterath, Lirstal

Meinem Vater Ernst Retterath danke ich für die Informationen, die er mir für die folgende Erzählung zur Verfügung stellte:

Als Kind bin ich quasi mit einem Radio aufgewachsen und konnte mir fast nicht vorstellen, dass dies bei anderen Leuten nicht so war. Das lag wohl daran, dass mein Vater sehr gerne Musik hörte, zur damaligen Zeit war das überwiegend Marschmusik. Im Nachhinein kann ich mir überhaupt keinen Reim mehr darauf machen, warum gerade unsere Familie über ein Radio verfügte, da viele andere Dinge in unserem kleinbäuerlichen Betrieb sicher nötiger gewesen wären. Das Rundfunkgerät hatte mein Vater in den Kriegsjahren angeschafft, und zwar vom Ehestandsdarlehen. Während andere frisch Vermählte sich von diesem Darlehen Schlafzimmermöbel kauften oder andere Haushaltsgegenstände erwarben, hatte er das Geld in ein Radio investiert. Eine Tatsache, die mir heute Kopfschütteln bereitet, wenn ich mir überlege, wie man dieses Geld sinnvoll in den Betrieb hätte investieren können. In dieser Zeit üblich waren die oben halbrunden Volksempfänger mit ihrem kratzigen Ton, doch das Format unseres Radios war viereckig und hatte auch einen schöneren, deutlicheren Klang. Damals gab es Lang-, Kurz- und Mittelwelle.

Volksempfänger

An eine sehr brenzlige Situation, die uns das Radio bescherte, kann ich mich besonders gut erinnern, obwohl ich damals noch ein kleines Kind war: Es geschah in den Kriegsjahren, mein Vater diente zwar bei der Wehrmacht, durfte aber in jenem Sommer auf Ernteurlaub in seine Heimat. Alle seine sechs Brüder und er waren als Soldaten im Krieg und da er als Einziger seiner Geschwister verheiratet und zudem auch noch Landwirt war, wurde ihm Heimaturlaub gewährt, um die Ernte einholen zu können. Das war der Grund, warum er an besagtem Abend zu Hause war. Wir saßen spät abends mit der gesamten Familie in der Stube beisammen und das Rundfunkgerät war eingeschaltet. Mein Vater hörte den feindlichen Sender, was ich jedoch erst später erfahren habe und dessen Brisanz ich als keiner Junge noch nicht einschätzen konnte. Plötzlich klopfte es an diesem späten Abend laut an der Wohnungstür. Man muss dabei bedenken, dass die Haustüren zur damaligen Zeit in den Dörfern nie abgeschlossen wurden, so auch bei uns nicht. Mein Vater zuckte unwillkürlich zusammen, stürzte dann sofort geistesgegenwärtig auf das Radio und betätigte den Ausschaltknopf - eine Reaktion, die für mich Bub unvorstellbar war und in einer Geschwindigkeit, die ich an meinem Vater zuvor noch nie beobachtet hatte. Der Schreck stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben, als er hastig ein „Herein“ rief. Vor der Tür hätte jeder stehen können, ein Nachbar oder ein anderer Dorfbewohner. Doch was die Sache umso schlimmer machte und meinem Vater einen Schock versetzt haben musste: Ein Polizist stand bei uns in der Tür! Meinem Vater war sofort klar was das bedeutete: Die Radiogeräusche des feindlichen Senders waren durch die kleine Parterrewohnung nach draußen auf die Straße gedrungen. Das würde auf jeden Fall schwere Konsequenzen nach sich ziehen, er müsste vors Militärgericht und es konnte gar Konzentrationslager für ihn bedeuten. „Die Fenster...“ begann der Polizist in äußerst gestrengem Ton und meinem Vater war angst und bange. Er wusste was nun kam. Durchs leichthörige Fenster waren also die verbotenen Radiogeräusche auf die Straße gedrungen... Nach einem Räuspern sprach der Polizist im Befehlston und in gerader dienstlicher Haltung weiter: „... Die Fenster müssen verdunkelt werden. Sie haben die Fenster nicht ordentlich verdunkelt! Bei Ihnen kommt zuviel Licht durch.“ Die Verdunklung der Fenster in den Abend- und Nachtstunden war eine Bürgerpflicht, die den Sinn und Zweck hatte, den alliierten feindlichen Flugzeugen nachts ein Ausspähen der Ortschaften unmöglich zu machen. „Also bitte erledigen Sie das sofort“, ordnete der Beamte an und verschwand mit einem damals typischen „Heil Hitler“-Gruß so schnell in die Nacht wie er gekommen war. So hätte sein heißgeliebtes Radio meinen Vater beinahe in tiefes Unglück gestürzt. Mehr Freude an dem Rundfunkgerät hatte er aber wieder später in den Nachkriegsjahren beim Verrichten stupider Alltagsarbeit. Meinen Vater sehe ich heute noch vor mir, wie er das Radio im Sommer nach außen auf die Hausfensterbank stellte und laut aufdrehte, während er morgens das Vieh versorgte. Im Stall gab es damals nämlich noch keine Steckdose und so musste er sich anders behelfen. Da das Stallgebäude nicht unmittelbar an den Scheuenbereich angebaut war, musste er das Viehfutter von der Scheune über den Hof zum Stall transportieren. Dies war sehr umständlich, doch das auf die äußere Fensterbank des Hauses aufgestellte Radio verschaffte ihm wenigstens während des Hin- und Herweges von der Scheune zum Stall eine musikalische Abwechslung und gute Laune. In den 1950er Jahren war ich etwas älter und konnte als Jugendlicher die Vorzüge des Radios schätzen. Zur Karnevalszeit kamen beispielsweise die ganzen Kinder des Dorfes in unserer guten Stube zusammen, um den Büttenrednern begeistert zu lauschen und die lustige Musik zu hören. So hatten wir immer ein volles Haus. Auch das Mithören von Sportreportagen bei Fußballspielen oder anderen Sportereignissen war bei Alt und Jung beliebt. Viele Erinnerungen sind mir an dieses Radio geblieben, denn es brachte eine Menge Leben in unsere Familie. Bildlich habe ich dessen Aussehen noch genau vor mir. Das Gehäuse unseres Radios war schwarz glänzend, sah sehr edel aus und bestand - so vermute ich - aus Ebenholz. Es war so schön, dass ich heute oft in Museen nach alten Radios dieser Zeit Ausschau halte, doch ein solches Modell habe ich bisher nicht mehr wieder gesehen.