Heimat

Gedanken über ein magisches Wort

Winfried Hau, Memmingen

Meinen Wohnsitz habe ich schon lange nicht mehr hier, aber mindestens einmal im Jahr zieht es mich in die Eifel zurück, in meine Heimat. Heimat ist ein magisches Wort. Hier hat man seine Wurzeln und Familienangehörigen, vielleicht aber auch nur noch Gräber und Erinnerungen. In der Heimat wird Dialekt gesprochen, der manches viel passender und emotionaler ausdrückt als Hochdeutsch. Trifft man in der Fremde Menschen, die Heimatdialekt sprechen, dann fühlt man sich sofort zu ihnen hingezogen. Es ist einfach schöner „Tach“ zu hören statt „guten Tag“, oder „wie jet et?“ statt „wie geht es?“ Der Dialekt ist nicht nur eine eigenwillige Sprache, sondern er besitzt auch eine eigenwillige Melodie, die uns das ganze Leben hindurch begleitet. Heimat ist Erinnerung an die Kindheit, an bestimmte Plätze, Gerüche und Landschaften, wo man Freude erlebte und manchmal auch Trost. Da gibt es einen einzigartigen Baum, eine einzigartige Lichtung, einen einzigartigen Hügel, See, Bach oder Fels. Der Baum, die Lichtung, der Hügel, der See, der Bach und der Fels werden zu Symbolen und Leitfaden des Ichs. Aus allem kann ich Verwurzelung schöpfen, Festigkeit, aber auch Aufbruch und Hoffnung inmitten von Resignation. Das Rauschen im Blattwerk eines Baumes, die sprudelnde Kraft eines Baches, die Ruhe, Tiefe und Gelassenheit eines Sees und die Festigkeit eines Hügels oder Felsens bilden elementar. Bilder der Heimat „bilden“ das Ich. In der Erinnerung tauchen Menschen auf, oft längst verstorben und nur noch schemenhaft erkennbar, deren Worte und Charakter einen wichtigen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir so geworden sind, wie wir sind. Unsere Persönlichkeit ist einzigartig und doch ist sie auch von vielen Worten, Gesten und Eigenheiten anderer Personen geprägt. Heimat und Erinnern hängen sehr eng zusammen. Wer sich erinnert wird innerlich, wird still, geht in die eigenen Tiefen und findet dort so manchen Schatz, der ihm in der Gegenwart zum Überleben hilft. Erinnern an die Kindheit ist ein Weg, die Verlässlichkeit der Welt wieder herzustellen. Der amerikanische Schriftsteller William Faulk-ner hat einmal geschrieben: „Heimat ist der Ort, wo sie dich aufnehmen müssen!“ Ich bin angenommen, so wie ich bin, ohne Wenn und Aber! Eine solche Erfahrung ist notwendig in der frühesten Kindheit und bohrt sich tief in die Seele ein.

Wer diese Erfahrung gespeichert hat, der wird auch als Erwachsener darauf vertrauen, dass die Welt ein verlässlicher Ort ist, an dem man sich mutig und engagiert bewegen darf. Heimat ist ein häufig missbrauchtes Wort. Für den Kampf um die Heimat, für „Blut und Boden“ wurden Menschen in den Tod getrieben, denn tief sitzende archaische Gefühle sind leider immer eine leichte Beute für Ideologien. Ältere Menschen erinnern sich noch daran, wie in der Eifel Bomben und Granaten einschlugen, die Haus und Hof und manches Menschenleben vernichteten. Heimat kann zu einem un-heimlichen, un-heimeligen Ort gemacht werden. Heimat ist Ausdruck eines Verlustes. Nur wer fern der Heimat ist, der weiß, was Heimat bedeutet. Heimat bezeichnet nicht nur einen lokalen Ort, sondern auch eine seelische Befindlichkeit. Immer mehr Menschen leiden unter seelischer Heimatlosigkeit, fühlen sich alleingelassen und unverstanden. Heimweh dürfte neben dem Liebeskummer eine der schmerzlichsten seelischen Erfahrungen darstellen. Eine sehr elementare Form von Heimweh ist der Verlust eines geliebten Menschen. Nirgendwo ist mehr Heimat zu finden als im Du, und mit dem Verlust eines geliebten Du werden nur sehr langsam verheilende Wunden in die Seele geschlagen. Heimat ist letztlich eine Sehnsucht, die unser ganzes Menschsein beherrscht, und damit wird Heimat zu einem religiösen Wort. Für den Philosophen Ernst Bloch ist Heimat „etwas, dass allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ Ein Kirchenlied spricht davon, dass wir ohne Ruh´ der ewigen Heimat zuwandern. In der Kindheit haben wir noch den „magischen Blick“, verinnerlichen den Schluss vieler Märchen, dass „alles, alles gut ist.“ Im Laufe des Lebens erfahren wir allerdings, dass nicht alles gut ist, ja dass vielleicht Schmerz und Enttäuschung die Oberhand gewinnen. Aber Schmerz und Enttäuschung weichen immer wieder einer nicht zerstörbaren Hoffnung. Was in der Kindheit schien, scheint auch ins Erwachsensein hinein und drängt nach einem Zustand von Heimat, in dem wir uns absolut aufgenommen und geborgen fühlen. Wir sind auf eine „ewige Heimat“ hin geschaffen, entsprechend dem Satz von Augustinus: „Du hast uns zu dir hin geschaffen, o Gott, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Hoffentlich kennen Sie einen Ort oder eine Person, der für Sie Heimat bedeutet und wo Sie den Worten Eichendorffs nachspüren können: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“