Probieren geht über studieren

Amanda Haagen, Henfenfeld

Es war im Sommer des Jahres 1929. Im Alter von sieben Jahren durfte ich zusammen mit meinen älteren Geschwistern die Ferien bei unserer Großtante verbringen. Sie verfügte über eine geräumige Wohnung nebst einer riesengroßen Terrasse. Für meine Brüder ein kleines Paradies: Um die Wette Sackhüpfen, Bockspringen, Blinde Kuh, auf Hände laufen, mit derartigem Zeitvertreib hatten sie ihre Freude. Die ältere Schwester interessierte sich für Großtan-tes Nähmaschine mit all den herrlichen Stoffresten. Damit entstanden für mich die schönsten Puppenkleider. Ich hingegen hielt mich gerne bei Tante am Küchenherd auf, so bekam ich auch mal den Kochlöffel in die Hand. Aber was da eines Tages im Suppentopf köchelte, versetzte mich in Staunen. „Großtante, willst du mit der roten Brühe etwas einfärben? Und wie komisch das riecht?“ Ganz ungläubig rührte ich darin herum. Es gehörte zu Tantes Eigenschaften, dass sie bei Gelegenheit recht spitzbübisch aufgelegt war. So schmunzelte sie: „Nein, nein, das ist keine Farbe, das gibt eine ganz giftige Suppe für die Lausbuben, damit ihnen mal Hören und Sehen vergeht, die Rasselbande hat doch nur immer Unfug im Kopf.“ Das war für mich die Sensation! Spontan ließ ich den Kochlöffel fallen und rannte schnurstracks auf die Terrasse. So schrie ich aus Leibeskräften: „Die Tante will euch vergiften, die hat für euch eine ganz giftige Suppe gekocht. Jawohl, Gift, Gift, Gift bekommt ihr heute Mittag.“ Je mehr ich schrie, desto heftiger stießen sie mich beiseite: „Scher dich fort, du störst uns, geh weg, sonst stecken wir dich in den Sack.“ Ganz beleidigt, keine Beachtung zu finden, stand ich daneben und schon erschien die Tante im Türrahmen. Sie klatschte in die Hände: „Hereinkommen, Pfoten waschen, die Suppe steht am Tisch.“ Gesittet und fromm saßen wir alle um den Tisch herum. Die rote Brühe mit gerösteten Brotbröckelchen wurde tatsächlich auf die Teller verteilt. Nach dem gehorsam herunter geplapperten Tischgebet ging’s los: „Bäh“, nach dem ersten Löffel, bäh, und noch einmal bäh! „Tante, was hast du da zusammen gebraut? Hast du den Suppentopf mit einem Farbtopf ver-wechselt?“

Tante lächelte siegesbewusst: „Das ist etwas ganz Neues aus dem Ausland. Das nennt sich Paradiesäpfelsuppe.“ Der Älteste: „Wieso Suppe? Wo sind denn die Äpfel?“ Tante ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: „Nun probiert erst einmal! An alles, was neu ist, kann man sich gewöhnen. Probieren geht über studieren.“ Zuerst erlaubte sich meine Schwester den Salzstreuer zu holen, einer der Brüder schnappte sich die Maggiflasche; allmählich hielt dann die Suppe mit ihrem fremden Geschmack der Prüfung stand. Begeistert war keiner, aber anstandshalber löffelte jeder seinen Teller leer. Großtante war zufrieden. Zuhause erzählten wir die Neuigkeit sofort unserer Mama. Die lachte: „Das sieht der Tante ähnlich, die muss auch alles, was neu ist, ausprobieren. Von den Paradiesäpfeln kann ich auch ein Lied sin-gen.“ Und dann erzählte uns Mama ihre Geschichte: „Damals, als Erzieherin bei Familie Iversen nahm mich die Köchin einmal mit auf den Markt. ‚Herminerl‘ sagte sie mit vorgehaltener Hand, ‚die Herrin hat mich beauftragt, Paradiesäpfel zu kaufen. Die wollen wir mal ganz heimlich probieren.‘ Einen ganzen Korb voll trugen wir nach Hause, da fiel es nicht ins Gewicht, dass wir uns einen dieser Südfrüchte stibitzten. Unsere Neugierde war wirklich groß. Oh jemine, beide spuckten wir den ersten Biss sofort wieder aus. Was waren wir enttäuscht. Nachher, im frischen Zustand in kleine Würfel geschnitten, mit Salz und Pfeffer, Essig und Öl, sprich als Salat hergerichtet, brachte Frau Iversen die Paradiesäpfel höchstpersönlich auf den Tisch. Uns beiden war der Appetit darauf vergangen, wir wollten davon erst gar nicht mehr kosten.“ Zu Mamas Erinnerung schrieb man die Jahreszahl Neunzehnhundert und fünf! Ein paar Jahrzehnte später hielten die Paradiesäpfel, längst bekannt als „Toma-ten“, ihren Siegeszug durch unser deutsches Vaterland. In den 1930er Jahren konnten wir uns den Gemüsegarten ohne die Tomaten gar nicht mehr vorstellen. Die heutige Generation schon gar nicht mehr ohne jegliche Art von südländischer Obst- und Gemüsesorten.