Orchideen-Frühling

Josef Kühlem, Gefell

Jedes Jahr haben sie sich gezeigt, meist schon in den ersten Maitagen. Sie wachsen nahe am Fahrweg, getrennt von einer dichten Hecke aus Schlehen, Weißdorn, Holunder und Hasel. So kommt der Nordwind kaum an sie heran. Am Ende der Hecke biegt der Weg ab und dann siehst du sie. Die frühe Morgensonne erwärmt das Wiesenstück recht bald, und so sind sie zeitig da, etwas später als der Löwenzahn. Aber genau so freut es uns ja auch. Wenn eins nach dem anderen sich zeigt, gibt es immer wieder eine Überraschung. Es sind mehr geworden in diesem Jahr. Dreizehn schmale Blütenstängel leuchten zwischen all den kleinen goldgelben Knöpfen. Unsere kleinen Orchideen. Sie sind so bescheiden mit ihren kleinen Blüten. Und doch sind sie nicht zu übersehen. Schau sie ganz nahe an: Viele übereinander rundum an den Stängel geheftete Veilchen, so sieht es aus, halt eben nicht blau, sondern kräftig rot, mit einem Hang zum Lila, gut eine Hand breit über dem Löwenzahn stehen sie. Es ist ein kleines Stück nur, dort wo sie wachsen, alle recht nahe beieinander. Und lange haben sie geblüht dort, im vorigen Jahr. Jedes Mal freuten wir uns, wenn wir vorbei spazierten. Auch die Rinder haben sie stehen lassen. Wissen sie, dass es sie nicht so oft gibt? Sie werden sie einfach nicht zum Fressen gerne haben, denke ich. Gut so. Dass, was es selten gibt, ist besonders wertvoll. Es ist nicht besser oder schöner, als das, was wir leicht haben können. Auch eine Distelblüte ist wunderschön. Aber das Seltene zu verlieren bedeutet einen größeren Verlust. Wir fürchten, es für immer verloren zu haben, Ersatz gibt es nicht. Sie waren nicht zu übersehen, die dreizehn kleinen leuchtenden Orchideen. Doch er hat sie übersehen. Gerade dort hat er das erste Futter für seine Tiere im Stall gemäht. Weiß er überhaupt, dass er einen kleinen Schatz auf seiner Wiese hat? Weiß er, dass sie so sensibel sind? Auf der Nachbarwiese standen sie auch, viele Jahre. Einmal wurde Gülle ausgefahren; sie haben es nicht überlebt. Aber vielleicht kommen sie hier hinter der Hecke im nächsten Jahr wieder. Und vielleicht mäht er hier ein wenig später - vielleicht.