Heimat und Literatur

Ein Engel mit Schönheitsfehler

Margret Heinzen, Feusdorf

Wieder einmal war es Advent und ich fuhr, wie immer am Nikolaustag, mit meiner Familie zum Weihnachtsmarkt. Dieses Jahr war Köln an der Reihe. Meistens wechseln wir ab, ein Jahr nach Köln und ein Jahr nach Trier. Dieses Mal war halt Köln dran. Mir war es noch so gar nicht weihnachtlich zu Mute. Im Gegenteil, ich war eher genervt von den vielen Weihnachts-Schokomännern, die schon seit September die Regale der Supermärkte bevölkerten und den ach so fröhlich dudelnden Weihnachtsmelodien in den Kaufhäusern. Aber trotz alledem haben wir uns nicht abschrecken lassen und sind auch in diesem Jahr per Zug zum Weihnachtsmarkt aufgebrochen. Weniger, um noch fehlende Geschenke einzukaufen, als mehr um uns mit einer Tasse Glühwein und einer Tüte gebrannter Mandeln so richtig auf Weihnachten einzustimmen. Allerdings haben die Leute mit den roten Nikolaus Zipfel-Mützen und blinkenden Lämpchen am weißen Plüschrand (die in der Stadt gleich rudelweise herum liefen) bei mir nicht gerade dazu beigetragen, besagte Stimmung zu erzeugen... So schlenderten wir denn über den Alter Markt und sahen uns die vielen schönen, zum Verkauf stehenden Sachen an. Später gingen wir durch die Fußgängerzone in Richtung Neumarkt, denn auch dort wollten wir uns noch die Stände anschauen. Im Vorbeigehen bemerkte ich einen Mann, der mit schmuddeligen Kleidern (Haare und Bart hatten vermutlich schon längere Zeit keinen Kamm, geschweige denn eine Schere gesehen) am Rand saß so offensichtlich ein Obdachloser. Einer, wie es sie in jeder Stadt zuhauf gibt. Und doch, dieser war anders. Er saß nicht, wie viele seiner Kollegen, einfach nur mit einem Pappbecher und einem Schild da, sondern er hatte neben sich eine Kiste mit Holzklötzchen in verschiedenen Größen, ein einfaches Taschenmesser in der Hand und schnitzte. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, was er da schnitzte: Engel! In allen Größen, alle einander ähnlich und doch keiner wie der andere. Ich zupfte meinen Mann am Ärmel und sagte: „Wenn der gleich noch da ist, wenn wir zurückkommen, würde ich mir die gern mal genauer ansehen“. „Klar“, meinte er, „wenn sie schön sind, können wir ja einen mitnehmen“. Damit war dasThema erst einmal gegessen und wir setzten unseren Weg fort. Nach einiger Zeit hatten wir alles gesehen, was uns interessierte, den obligatorischen Glühwein und die Mandeln im Bauch und allmählich wehe Füße vom vielen Laufen. Also machten wir uns langsam auf den Weg zurück zum Bahnhof. Und siehe da, der schnitzende Obdachlose war noch da. Ich ging zu ihm und sah mir seine Figuren an. Alle waren Kunstwerke, jedoch einer ist mir ganz besonders ins Auge gefallen. Nur knapp so groß wie mein Zeigefinger, mit einem Astloch im Flügel stand er neben den anderen, makellosen, ohne Fehler im Holz. Aber gerade wegen des Astloches war mir dieser Engel so sympathisch. Haben wir nicht genug Perfektion und Hochglanz in unserer Welt? Ist nirgendwo mehr Platz für kleine Fehler? Gerade diese kleinen Fehler sind es doch, die uns Menschen so einzigartig machen, oder?
Nun, ich kaufte den Engel und der Obdachlose stand auf, blickte mir fest in die Augen, nahm meine Hand und legte den kleinen Engel hinein. Er hielt meine Hand in der seinen, mit den schwarzen und teilweise abgebrochenen Fingernägeln, fest umschlossen und sagte in gebrochenem Deutsch: „Ich wünsch dir viel Gluck und viel Liebe und viel gut Zeit mit dein Familie“. Ich nahm den Engel behutsam an mich, gerührt von der Ausstrahlung und den einfachen Worten dieses Mannes. Er war zwar schmutzig, besaß wahrscheinlich nicht viel Geld und schlief am Abend vermutlich irgendwo in einem Kaufhauseingang oder sonst einem leidlich geschützten Plätzchen, und dennoch hatte er begriffen, worum es beim Fest der Liebe geht. Und gerade eben hatte er es auch mir wieder beigebracht. Denn was gibt es schöneres, als an Weihnachten Liebe, Glück und „viel gut Zeit“ mit der Familie? Ab diesem Moment war es da, mein bis dahin so vermisstes „Weihnachtsfeeling“. Auf dem Nachhauseweg sahen wir durch die Fenster des Zuges immer wieder beleuchtete, kletternde Weihnachtsmänner an Hausfassaden und bunt blinkende Lämpchen an manchen Fenstern. Interessanterweise empfand ich sie an diesem Abend gar nicht so störend wie sonst. Vermutlich lag das an „Colonia“, dem Engel mit dem Loch im Flügel, den ich immer noch fest in der Hand hielt und der seitdem bei uns zu Hause auf dem Eckregal steht.

Zeichnung: Margret Heinzen