Die kleine Kuchenform

Marinesoldat Adam Rehling aus Mehren

Oskar Heck, Mehren

Am 11.11.1956 ging ein Leben voller Leid und Entbehrungen zu Ende: Das Leben meines Schwiegervaters Adam Rehling aus Mehren. Von seinen Erfahrungen als Soldat im Ersten Weltkrieg sei hier berichtet: Die Einberufung zur Marine erfolgte am 13.1.1909. Nach der Ausbildung auf verschiedenen Kriegsschiffen wurde er am 22. August 1911 in die Heimat entlassen. Am 1. August 1914 begann der 1. Weltkrieg. Wenige Tage später, am 5. August, wurde er zur Kriegsmarine eingezogen und bereits am 15.8.1914 zum Kreuzer „Magdeburg" nach Danzig als Heizer abkommandiert. Etwa eine Woche später kam der Befehl zum ersten Einsatz im finnischen Meerbusen, wo es in der Nacht vom 25. zum 26.8. in der Nähe der Insel Odensholm zu einem Seegefecht mit russischen Kriegsschiffen kam: Bedingt durch starken Nebel und die Dunkelheit war jegliche Orientierung verloren. Infolge einer gewaltigen Erschütterung wurde angenommen, von einem feindlichen Torpedo getroffen worden zu sein. Taucher stellten aber bald fest, dass dies nicht der Fall war, sondern der Kreuzer auf einem Felsen festsaß. Um das Schiff wieder flott zu machen, befahl der Kommandant, allen entbehrlichen Ballast über Bord zu werfen. Aber alle Bemühungen waren zwecklos. So kam er zu dem Entschluss, das Schiff zu sprengen, damit es nicht in feindliche Hand fiel. Der Kommandant gab den Befehl: „Alles über Bord, rette sich wer kann, es lebe der Kaiser". Nun begann eine dramatische Situation:
Etwa 300 Matrosen schwammen bei völliger Dunkelheit in der Ostsee, die Backbord abgesprungenen Matrosen wurden von einem deutschen Torpedoboot gerettet, die vom Steuerbord abgesprungenen von den Russen. Zu den vom deutschen Torpedoboot Geretteten gehörten Willi Jager aus Daun und Jakob Hambach aus Mehren. Zwischendurch war es einem Teil der schwimmenden Matrosen gelungen, wieder auf das gesprengte Schiffswrack zurück zu schwimmen, um sich mit trockener Kleidung zu versorgen. Die Russen haben diese dann gefangen genommen; zu ihnen gehörte auch Adam Rehling. Dem Vernehmen nach sollen 57 Matrosen den Weg in die Gefangenschaft angetreten
haben.
Wie viele Matrosen beim Seegefecht und beim Schwimmen in der Ostsee den Heldentod fanden, ist unbekannt. Die Gefangenen wurden dann auf dem Bahnhof von Reval in einen Güterzug verladen. Die Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn ins Gefangenenlager Chabarowsk dauerte vier Wochen. Chabarowsk liegt am Amur, einem Grenzfluss zwischen Russland und China, 300 km Entfernung zum japanischen Meer. Eine Umzäunung für das Gefangenenlager gab es nicht, wer wollte schon den Fluchtweg über 11.300 km riskieren! Auf dem Foto, welches die Soldaten beim Spülen der Essgeschirre zeigt, ist Adam Rehling als Einziger mit einem Marinemantel zu sehen. Die Begründung liegt in der Tatsache, dass beim Transport die Russen den Gefangenen die Mäntel abnahmen; sie konnten aber nicht ahnen, dass Adam Rehling ein ausgezeichneter Boxer war, und er den Russen mit einem gezielten Boxhieb zur Strecke brachte. Im Gefangenenlager begann eine ungewisse Zeit. Es kam das Weihnachtsfest 1914. Lebenszeichen wurden an die Angehörigen gesandt; ob sie ankamen, war nicht bekannt. Eine am 21.11.1915 abgesandte Feldpostkarte erreichte Mehren, aber erst im Frühjahr 1916! Das 2. Weihnachtsfest 1915 war längst vergangen, aber die Angehörigen hatten nun wenigstens eine Adresse. Vater Rehling, von Beruf Klempner, hat eine Kuchenform zusammengelötet, deren
Inhalt das Gewicht von einem Pfund nicht überschreiten durfte. Die Mutter hatte einen Kuchen gebacken und das Paketchen wurde mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen zum Versand gebracht. Aber auch das dritte Jahr in Gefangenschaft verging ohne Nachricht von Zuhause, denn das für Weihnachten 1916 bestimmte Paketchen kam erst Ostern 1917 im Gefangenenlager an. Der Inhalt war nicht ein von der Mutter liebevoll gebackener Kuchen, sondern viele hundert Kuchenkrümel. Wieder vergingen Monate, bis es Ende Oktober zur russischen Oktoberrevolution kam. Nach über drei Jahren Gefangenschaft sollten die Deutschen in die Heimat entlassen werden. Sie wurden in einen Güterzug verladen, waren bereits 2000 km gefahren, als es zu der Gegenrevolution kam und die Fahrt in die ersehnte Heimat jäh unterbrochen wurde. In Irkutsk am Baikalsee kam Rehling wieder in ein Gefangenenlager. Er erzählt: „Und als wir im Jahre 1917 das Weihnachtsfest zum vierten Mal fern der Heimat verbringen mussten, saßen wir im Lager zusammen und ein jeder dachte an seine Lieben zu Hause. Vor der Tür lag tiefer Schnee und es waren 52° Kälte. Ich trat vor die Tür, um nach einem Weihnachtsbaum Ausschau zu halten. Aber schnell kam mir zum Bewusstsein, dass mein Suchen vergebens war. Dann sah ich eine Distel, welche die schweren sibirischen Herbststürme überlebt hatte. Ich grub sie aus und stellte sie im Lager auf, war sie doch das Sinnbild unseres harten Lagerlebens. Wir lagen auf unseren Pritschen und ein jeder dachte an zu Hause. Keiner dachte daran, ein Weihnachtslied anzustimmen. Da nahm ich meine Ziehharmonika, welche mir ein evangelischer Pfarrer besorgt hatte und begann das alte deutsche Volkslied zu spielen: „Nach der Heimat möcht' ich wieder, nach dem teuren Vaterort, wo man singt die frohen Lieder, wo man spricht ein trautes Wort. Teure Heimat, sei gegrüßt, in der Ferne sei gegrüßt! Sei gegrüßt in weiter Ferne, teure Heimat, sei gegrüßt.“
Als die letzten Verse verklungen waren, sah ich Tränen in den Augen meiner Mitgefangenen. Wir ahnten jedoch nicht, dass wir noch drei weitere Jahre im Gefangenenlager verbringen mussten. Ende Dez. 1920 wurde ich nach Warnemünde entlassen und am 1.1.1921 konnte ich nach über sechs Jahren meine Mutter endlich wieder in die Arme schließen. Von meiner Mutter musste ich dann erfahren, dass meine beiden Geschwister inzwischen verstorben waren, meine Schwester Margarethe am 20.8.1919 an einer Lungenentzündung und mein Bruder Franz am 19.08.1920 an einem Kriegsleiden. Am 9.6.1921 habe ich dann geheiratet. Meine Frau Anna geb. Steffens aus Darscheid schenkte 1926 unserem Sohn Alfred das Leben, das er aber 1944 als Siebzehnjähriger leider in Russland verlor. Unsere Tochter Anita kam 1928 zur Welt.“