Eins, zwei, drei, vier Eckstein...

Gretel Körner - te Reh, Ahlen

Inzwischen sind die Kindheitserfahrungen und -spiele der Kriegs- und Nachkriegsgeneration schon historisch geworden. In Ausstellungen und auf Flohmärkten finden wir kunstvolle Puppenstuben, lädierte Teddys, kleine Eisenbahnen und Köfferchen, die meist als Weihnachtsgeschenke in „betuchteren“ Familien die Kinderherzen höher schlagen ließen. Alte Fotografien zeigen strahlende Kinder mit einfachsten Dreirädchen, abgenutzten Stoff-Pferden auf Rollen und diversen Holzwägelchen. Alle diese Kostbarkeiten mussten meist im Hause bespielt werden, das „richtige“ Spielen fand damals aber auf der Straße statt, ohne viel Spielzeug, dafür mit unserer Phantasie und mit vielen Spielkameraden. Wir legten - wie kleine Gartenarchitekten - Moosgärtchen an. Dicke, grüne Moospolster drapierten wir um große Steine; gelben Hornklee gruben wir sorgsam aus und arrangierten die Pflanzen in Gruppen. Muttergottesgläschen, ein Windengewächs mit weißen Blüten, steckten wir zwischen Grasbüschel. Je nach Jahreszeit pflückten wir Butterblumen, Wiesenschaumkraut und Rainfarn und das alles gleich in dicken Sträußen. Hierbei begleiteten uns unsere kleinen Geschwister, auf die wir größeren Mädchen immer aufpassen mussten. Es war damals eine Selbstverständlichkeit, diese „Anhänger“ mitzuschleppen, sonst wären wir gar nicht zum Spielen gekommen. Zum „Spielen“ gehörte aber auch das Sammeln von Beeren und Nüssen, von Bucheckern, Hagebutten und Kastanien. Aus letzteren bastelten wir dann kleine Männchen, Pfeifen und Wägelchen.
Die anderen
Köstlichkeiten peppten den Speisezettel der Familie auf. Verstecken konnte man sich damals bestens in allen Ecken, hinter Mäuerchen, Brettern und Büschen. Das Spielumfeld war lange nicht so steril und aufgeräumt wie heutzutage. Wer kennt nicht den Abzähl-Reim: „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein, hinter mir und vor mir gilt es nicht, eins, zwei, drei, ich komme!“ Oder den Sing-Sang: „Der Plumpssack geht um, dreh’ dich nicht um, wer sich umdreht oder lacht, dem wird der Garaus gemacht!“ Bei diesem Kreisspiel ließ der Umkreiser ein Taschentuch fallen, und derjenige, hinter dem das Tuch lag, musste den Tuchwerfer erreichen, bevor dieser seine Runde beendet hatte. Fangen und Völkerball liebten wir genauso wie Seilspringen und Hüpfhäuschen. Die Felder der Hüpfhäuschen markierten die Spieler mit verschiedenfarbigen Glasscherben oder schönen Steinchen, die man überall finden konnte. Diese Spiele ersetzten uns das heutige Stretching, Balancing und Aerobic. Die frische Luft machte uns müde und hungrig; war der Hunger zu groß, rannte man mal schnell nach Hause, ließ sich von der Mutter ein Brot mit Zucker bestreut geben oder einen Apfel, und schon ging das Spielen weiter bis es dunkel wurde. Dies war das Signal, heim zu gehen, und es wäre uns im Traum nicht eingefallen, diese Regel zu missachten.
In den 1950er Jahren war der ganze Stolz der Kinder ein Stoffsäckchen, meist aus den Resten der Küchenvorhänge genäht, mit Klickern (Murmeln) aus gebranntem Ton gefüllt, später aus Glas - auch farbig - und aus Metall. Dieser Schatz wurde herumgetragen, um mit Gleichgesinnten ein Spielchen zu machen. Mit dem Schuhabsatz drehten wir eine Kuhle ins Erdreich - es war ja kaum eine Straße oder ein Bürgersteig gepflastert oder asphaltiert - und schon gings los, um dem Mitspieler einige Klicker abzuluchsen. Auch hierbei begleiteten uns größere Kinder unsere „Anhänger“, wie man auf dem Foto von 1953 sehen kann. Die Aufnahme entstand am „Krämer-Schuppen“ in Gerol-stein, dort steht seit 1966 das Postgebäude.
Eine meiner Freundinnen besaß damals ein DIABOLO, und voller Stolz zeigte sie mir eines Tages, wie geschickt sie im Diabolo-Spiel war. Das Diabolo ist eine Art hohle Spule mit einer dünnen Taille. Mit Hilfe einer an zwei Stäben befestigten Schnur ließ sie die Spule in pfeifender Geschwindigkeit um sich selbst kreisen. Plötzlich breitete sie die Arme weit aus und warf die Spule hoch in den Himmel. Und dieses Diabolo fiel mit einer wirklich diabolischen Genauigkeit auf die Schnur zurück. Diese Fertigkeit habe ich leider niemals erreicht, so sehr ich mich auch abmühte und übte. Immerhin, meine Freundin hat mir ihr „Heiligtum“ ausgeliehen, ich war sehr stolz. Meine Kindheit war eine Zeit, in der vieles klar geregelt und überschaubar war. Jeder kannte den Namen der Frau, bei der man die Brötchen einkaufte (nur samstags!), des Mannes, der den Müll abholte (Herr Grün), des Mannes, der die Post brachte, und wir kannten den Namen des damaligen Oberpostmeisters. Das war in der zweiten Hälfte der 1950-er Jahre Herr Berg, der auch Kinder in meinem Alter hatte. Überhaupt, es mangelte nicht an Spielgefährten in der Nähe von Post und Bahn, und wir liebten es alle, wenn wir uns sicher und unbeobachtet fühlten, durch den Privateingang der alten Post zum Dachgeschoss zu schleichen, wo sich ein Schulungsraum für Postbedienstete befand.
Es war natürlich verboten, daher besonders reizvoll, dort im geheizten Raum an Tischen zu sitzen und Schule zu spielen. Es gab nur eine große Wandtafel und eine riesige Deutschland-Kar
te. Die älteste Tochter Berg war meist unsere Lehrerin, prüfte unser Kopfrechnen, hörte Gedichte ab und französische Vokabeln, und mit einem Zeigestock schipperten wir den Rhein rauf und runter, erzählten vom Rheinfall bei Schaffhausen, dem Rheinknie bei Bingen, von den Burgen und der Loreley, vom Niederrhein und von Lek und Waal in Holland. Das hat Spaß gemacht! Irgendwie klingen solche Geschichten heillos altmodisch. Fast reaktionär!
Können diese Spiele konkurrieren mit unserer Internet-und Fernsehwelt, die raffinierte Abläufe und Antworten für Kinder bereit hält? Mit schmeichelnden Werbebotschaften, mit unzähligen Comedys, Soaps und Computerspielen? Aus meiner Sicht sollten derartige Angebote nur eine untergeordnete Rolle spielen. Bei Spiel und Sport mit Freunden, Geschwistern und Eltern wird soziales Verhalten trainiert, man lernt zu gewinnen und zu verlieren, baut eventuell Druck ab und tut oft etwas für die Gesundheit.