Kindheit im Dorf

Gisela Bender, Deudesfeld

Die Nachkriegsjahre, die Zeit meiner Kindheit war eine ganz andere Zeit als heute. Der gravierendste Unterschied bestand darin, alle hatten gleich viel, oder gleich wenig. Die äußeren Rahmenbedingungen waren für alle die gleichen, alle mussten zu Hause in der Landwirtschaft mithelfen. Einige waren jedoch im familiären Bereich stärker belastet als die anderen. Eine Armut, wie man sie heute in den Medien aus der dritten Welt vermittelt bekommt, kannten wir nicht. Hunger haben wir keinen leiden müssen, unsere materiellen Wünsche waren jedoch minimal. Wir kannten es nicht besser. War man aber auf irgendeine Art und Weise mal an fünf Pfennig oder einen Groschen heran gekommen, dann wurde dieses Geld auf dem schnellsten Wege im Dorfladen umgesetzt. Einige Zeit hatte ich eine ungewöhnliche Quelle erschlossen, um an einen Groschen zu kommen. Zur damaligen Zeit hatte fast jeder im Dorf einen Spitznamen. Aber manch einer konnte das nun absolut nicht ausstehen, und gerade diese Reaktion führte dazu, dass sein Spitzname dann immer populärer wurde. Jedenfalls gab es Leute im Dorf, die meinen Vater „Schäiwa Gippes“ (Gippes für seine hagere Statur) nannten. Das schien ihm jedoch nichts auszumachen. Nun kamen von Zeit zu Zeit Viehhändler ins Dorf, fast immer dieselben. Man kannte sich und wusste, mit wem man es zu tun hatte.
Da waren Perija Mättesjen aus Manderscheid, die beiden Dauner Mengelkoch und Hartmann und der alte Anton Rosen aus Seinsfeld. Mit dem Letzteren tätigte mein Vater sozusagen alle seine Viehgeschäfte. Nun hatte Rosens Ton sich angewöhnt, mich zu fragen „Wat ass dei Vatter? Wenn du es sagst, bekommst zu einen Groschen!“ Einen ganzen Groschen, wie das lockte, was ich dafür bei Schäiwa Käth im Laden alles kaufen konnte! In Anbetracht dessen sagte ich dann: „En Schäiwa Gippes!“ Das ging so lange, bis mir auf einmal bewusst wurde, dass ich meinen Vater für einen Groschen verriet. Bis es aber soweit war, kaufte ich erst einmal für den Groschen zwei Tütchen Brause. Die wurden ganz genussvoll verzehrt. Immer ein kleines Häufchen auf die Handfläche ausgeschüttet und mit der Zunge daran geleckt. Wie herrlich war dieser Erdbeeroder Waldmeistergeschmack. Damit man möglichst lange davon hatte, wurde das ganze zigmal im Mund hin- und hergedreht. Zum Schluss hatte man dann zusätzlich zum Geschmack auch noch den Mund voll Erdbeerschaum. Unglaublich, dass der Geschmack jenes Groschenproduktes einem heute noch nach mehr als fünf Jahrzehnten auf der Zunge liegt. Wir wuchsen mit traditionellen Werten auf. Das begann mit den morgendlichen Messen. Es war einfach eine Selbstverständlichkeit, außer der Sonntagsmesse jeden
Dienstag- und Freitagmorgen um sieben Uhr in die Schulmesse zu gehen. Für die Kinder aus Desserath und der Thournemühle war das schon eine Strapaze, vor allem im Winter. Damals gab es den stündlichen Schneeräumdienst, wie wir ihn heute haben, nicht. Meistens waren die Schulkinder morgens die ersten, die sich eine Spur ins Dorf trampelten. Einige Winter waren sehr schneereich, außerdem ließen Bekleidung und Schuhwerk arg zu wünschen übrig. Es war Nachkriegszeit, woher sollten die Eltern die Bedarfsartikel nehmen. Bei Geschwistern war es üblich, dass die Jüngeren stets die abgetragenen Sachen der Älteren anziehen mussten. Gummistiefel gab es in den ersten Jahren auch noch nicht. So kamen die Kinder oft mit nassen Hosen und Strümpfen in die Kirche oder in die Schule. Um acht Uhr ging der Unterricht dann los. Wenn Harnickels Käth (Katharina Willems, Zugehfrau für die Schulräume) es bis dahin geschafft hatte,

Zeichnung: Kerstin Weinacht, Kerpen

den Ofen im Klassenzimmer warm zu bekommen, was noch lange nicht jeden Tag der Fall war, durften die Desserather sich erst an ihm etwas trocknen. Ansonsten saßen sie den ganzen Vormittag mit nassen Kleidern in der Schule. Der Lehrer unterrichtete in einer Klasse acht Jahrgänge. Diese Form der Wissensvermittlung erforderte Engagement auf der einen, und Disziplin auf der anderen Seite. Um ein Uhr war für die Großen Schulschluss, die Kleinen waren schon früher fort. Zu Hause wartete man nicht nur mit der Mittagssuppe, sondern auch schon mit dem Arbeitsplan für den Nachmittag. In vielen Familien, wo keine Tanten, Onkeln oder rüstige Großeltern waren, ging es einfach nicht
oh
ne die Mithilfe der Kinder. Manchmal wurde uns Kindern zuviel des Guten zugemutet. Deshalb nutzten wir jeden unbeobachteten Augenblick, um ins Dorf zu entweichen. Dort traf man immer auf andere, denen es genauso erging. Dann wurde mit einer unglaublichen Intensivität „Heppelhaisjen, Kleckert oder Verberjen“ gespielt und alles andere vergessen. Aber die Realität holte einen schnell wieder ein, dann hieß es „komm dau ees heem, dau kress se“. Allzu oft war dies dann auch der Fall. In der Woche war die freie Zeit, die uns Kindern zur Verfügung stand, sehr knapp, aber der Sonntagnachmittag gehörte uns ganz. Dann ruhten die Erwachsenen aus von der Plackerei in der Woche.
Das ganze Dorf gehörte uns Kindern, und wir wussten dies zu nutzen. Vor allem während der Zeit, in denen die Bauerngärten etwas hergaben, was wir zu Hause nicht hatten. Da sehe ich die knackig roten Kirschen im Kirschenacker von Johnen, oder die Brau-men (Pflaumen) und Mirabellen vor Schmetten ihrem Haus. Wir wussten ganz genau, wo ein Süßapfelbaum stand und in welchem Garten die schönsten Erdbeeren waren. Manchmal wurden wir vom Feldschütz Bäylen Jäp erwischt, und er rannte hinter uns her, aber wir waren jung und er alt.Rückblickend waren die Kinderjahre im Dorf trotz Arbeit und Pflichten, eine glückliche Zeit in meinem Leben.