Fußballspielen

Karl-Peter Eis, Köln

 

Klar, ich war ein begeisterter Fußballspieler, aber wie sah es in der Zeit nach 1945 aus für uns zehnjährige Jungen? Wo gab es überhaupt noch einen Fußball? Es gab keinen einzigen, dafür aber eine riesige Menge Improvisationstalent für diesen Sport. In Büscheich, wo wir damals wohnten, spielten wir auf der „Kalwerwiss“, mit Bällen aus Stoffresten. Damit gelang zur Not auch barfuss noch ein Schuss. Doch dann tauchte von irgendwo her doch tatsächlich ein echter Fußball auf. Er war sicher wegen seinen aufgeplatzten Nähte fortgeworfen worden. Mein Vater reparierte die Nähte sorgfältig mit Pechdraht, während wir Jungs ihn umstanden und es kaum abwarten konnten, endlich einen richtigen Fußball zu bekommen. Aber dann die Enttäuschung, wir hatten zwar eine reparierte Lederhülle, aber nirgendwo gab es für sein Innenleben die aufblasbare Gummiblase, damit der Fußball auch in Betrieb genommen werden konnte. Es musste eine Lösung ersonnen werden.
Wo also wurde im Dorf geschlachtet? Konnte man vielleicht dort die Schweinsblase ergattern?
Wir hatten endlich eine bekommen - aber jede Schweinsblase ist auch etwas anders geformt, diese passte nicht so ganz in den Ball, aber wir konnten damit spielen. Jetzt fehlten noch die Fußballschuhe! Wieder wusste Vater mir zu helfen. Ich musste eben mein einziges Paar Halbschuhe dafür opfern. Opfer? Für mich war das überhaupt keins. Nur Mutter hatte Einwände, wo kriegen wir ein Ersatzpaar her? Ich gab mich zufrieden mit dem Paar US-Stiefel, die mir, trotz Innensohlen aus viel Pappdeckel, viel zu groß waren. Aber die reichten doch. Ich sah glücklich zu, wie Vater mit der Kneifzange die Absätze meiner Halbschuhe wegriss, herrlich. Dann schnitt er kreisrunde Lederstücke aus Sohlleder, um sie übereinander als Stollen aufzunageln.
Bald waren alle Lederstollen fertig und damit ein gutes Paar Fußballschuhe. Ich wollte sofort zu meinen Fußballfreunden, aber ich sollte im Garten graben. Mutter hatte mir das vorgesehene Stück gezeigt, bis zum dritten Zaunpfahl, also bis an Josef Pauls dicken Kirschbaum ran, der so herrliche gelbe Kirschen hervorbrachte und dessen Äste - Gott sei dank - bis über unseren Garten ragten! Aber jetzt warteten dort keine süßen knackigen Kirschen auf mich, sondern echte schweißtreibende Arbeit -und zu allem Übel hörte ich bis hierhin ins „Jääßjen“ meine Schulkameraden auf der „Kalwerwiss“ mit unserem neuen Fußball so richtig ballern. Um schneller bei ihnen zu sein, verfiel ich auf einen Trick:Ich grub nur alle 30-40 cm eine Reihe um und breitete den Boden über den dazwischen liegenden ungegrabenen Zwischenraum fein säuberlich aus. Und im Nu war ich fertig und lief zu meinen Kameraden auf die „Kalwerwiss“. Endlich in richtigen Fußballschuhen hinter einem richtigen Ball herlaufen! Welch ein Bubenglück!
Mutter hat den Pfusch natürlich beim Aussäen sofort gemerkt - mit hier zu verschweigenden, recht unangenehmen Einwirkungen auf mich. Ein anderes Mal sollte ich unsere Geißen hüten. Der neue Sportplatz in Büscheich war um 1946, zwischen Büscheich und Niedereich auf einer einigermaßen ebenen Wiese angelegt worden. Dahin zog es mich nun mit aller Gewalt mit meinen neuen Fußballschuhen. Aber ich musste mit unseren vier Ziegen an jenem Nachmittag in die Nähe einer Wiese meiner Großeltern, in der Niederung zwischen dem Gerolsteiner Wald und Niedereich. Ich sah und hörte meine Fußballfreunde bereits voller Enthusiasmus spielen, als ich an einem Wäldchen eine gute Futterstelle fand. Da sah ich den herunterhängenden Draht eines Zauns. Den könnte ich doch verwenden!
Vom starren Draht zwickte ich für jedes Tier ein zirka acht Meter langes Stück ab, das verknüpfte ich am vorhandenen Halsband und das andere Ende wickelte ich um Baumstämmchen am Waldrand. So waren die Ziegen nah am Gras, konnten nicht fortlaufen und ich konnte endlich zum Fußballplatz, etliche Hundert Meter entfernt. Es war super, unser Spiel. Ich schoss ein Tor nach dem andern!

Nach dem Spiel um die Kreismeisterschaft (Jugendmannschaften) SV Jünkerath - SV Gerolstein 0:5 am 11. 03. 1951 oben v. l. nach r.: Jochen Novotny, Walter Begass, Horst Koch, Karl-Heinz Wollwert, Rudi Wirtz, Hans Regnery, Hans-Walter Koch, Hans Brausch; unten: Hubert Luxen, Hans Crois

Immer wieder schaute ich vom Platz aus nach den Tieren. Unser Spiel dauerte fast zwei wundervolle Stunden. Als ich nur noch eine Ziege sehen konnte, die sich zu allem Übel auch noch komisch bewegte, rannte ich mit bösen Vorahnungen schnurstracks hin. Oje! Alle Tiere waren durch ihr Hin- und Herlaufen mit dem Draht verwickelt und lagen röchelnd vor und im Wäldchen. Ein furchtbarer Anblick! Ihre ledernen Halsbänder waren so straff zusammengedreht, dass ich sie nur mit größter Mühe und unter Anrufung aller Heiligen im Himmel öffnen konnte. Schaum und Fressreste habe ich ihnen mit schnell gerupftem Gras von Mäulern und Nasen gewischt und ihnen gut zugesprochen. Langsam erholten sie sich. Ich blieb noch, bis sie wieder grasten. Dann bin ich mit ihnen heim. Sie waren schmal, kaum satt geworden an dem Tag. Gottlob hatten sie das Unglück ohne Folgen überstanden.
Die Zeiten änderten sich, aber der Enthusiasmus für Fußball war der gleiche als wir wieder zurück in unser Haus nach Gerolstein zogen. Kurz nach der Währungsreform waren die Auslagen der Gerolsteiner Geschäfte gefüllt mit verlockenden Angeboten. Doch für mich waren die Mode-und Möbelauslagen uninteressant. Mein brennendstes Interesse als Dreizehnjährigem galt den modernen Fahrrädern im Fenster der Motorrad- und Fahrradhandlung Fritsch, die es jetzt sogar mit Gangschaltung gab und diesem nagelneuen Fußball, den ich auf dem Weg zu und von der Schule, immer wieder im Schaukasten des Schuhgeschäftes Blaumeiser neben dem Paar Fußballschuhe bewunderte.
Doch diese verlockenden Angebote waren nicht für jeden zu haben. Für viele der Ausgebombten und Flüchtlinge und jene, denen der Krieg die Gesundheit, Arbeitskraft und damit das Einkommen genommen hatte, war alles nur zum Anschauen. Und doch gab es plötzlich eine Chance für mich, mit genau diesem bewunderten neuen Fußball zu spielen. Toni Zins bekam diesen Ball von seinem Vater geschenkt, der ein erfolgreiches Speditionsunternehmen betrieb. Unter Altersgleichen war bekannt, dass ich einen strammen Schuss hatte und auch als Torhüter Talent besaß. Kurzum, ich war von Anfang an beim Spiel mit diesem neuen Ball dabei. Mit von der Partie waren, meiner Erinnerung nach, u.a. auch: Walter Begass, Horst Koch, Robert Reissmann, Helmut Ewertz, Karl-Heinz und Ewald Wollwert sowie Albert Zins.
Gespielt wurde am Ortsausgang, Richtung Pelm, direkt neben der Kyll auf einer flachen Wiese. Winter und Kälte schreckten echte Fußballjünger nicht ab, auch nicht die Kyll mit ihrem hohen Wasserstand nach anhaltendem Regen. Der Enthusiasmus über den nagelneuen Ball riss uns zu einem begeisterten Spiel fort. Mir gelangen etliche ausgezeichnete Schüsse. Aber, o weh, einer ging zu weit, der Ball landete mitten in der Kyll. Die Strömung riss ihn sofort mit. Blitzartig schoss mir durch den Kopf, niemals könnten wir Toni den verlorenen Ball ersetzen! Wir hatten doch keinen Pfennig Einkommen! Indem zog ich schon blitzschnell Schuhe und Strümpfe aus. Ich musste den Ball retten! Barfuss lief ich entlang der Kyll, immer den in der Mitte sich drehenden und auf und ab schwabbelnden Fußball im Auge, bis zu dieser flachen Stelle inmitten der Kyll, um ihn von dort zu packen. Das gelang mir auch. Aus dem eiskalten Wasser warf ich ihn ans rettende Ufer. Beim Schwung fanden meine nackten Füße auf dem steinigen, glitschigen Untergrund keinen festen Halt: Ich verlor das Gleichgewicht. Sofort riss die Strömung mich fort und zog mich unter. Ich schluckte Wasser. Nur nicht aufgeben! Ich kämpfte mit aller Kraft gegen die reißende Strömung. Schließlich gelang es mir, aus der Mitte und ans Ufer zu kommen. Die Spielkameraden, den geretteten Ball außer Acht lassend, waren mir besorgt am Uferlauf gefolgt und hatten mich bei meinen Kampf mit der Strömung angefeuert. Jetzt empfingen sie mich, der nun von der Anstrengung zitternd und triefend nass ans Ufer kletterte, und schlugen mir anerkennend auf die Schultern. Sie hatten zwar meine trocken gebliebenen Schuhe und Strümpfe dabei, aber wo sollte ich mich trocknen? Nach Hause zu gehen wagte ich nicht. Durch den Schreck, den ich unserer Mutter mit meinem Erscheinen einjagen würde, würde sie mir das Fußballspiel sicher auf lange Zeit, vielleicht sogar auf immer verbieten. Da unterbreitete mir unser Mitspieler KarlHeinz Wollwert die fabelhafte Idee, ich sollte meine Sachen und mich selbst in der sicherlich warmen Backstube ihrer Bäckerei trocknen. Gesagt - getan. Obendrauf gab’s noch eine der frischen Apfeltaschen, die gerade braunknusprig aus dem Backofen kamen. Als meine Kleider trocken waren, zog ich sie an, kämmte mich, dann ging ich heim. Zwar schimpfte Mutter mit mir wegen meines langen Fortbleibens, aber von diesem gefährlichen Abenteuer beim Fußballspiel hat sie nie etwas erfahren. Das Beste für mich war allerdings, Mitglied in der Jugendmannschaft im SV Gerolstein zu werden. Es gab Mannschaftstrikots und wir fuhren zum Fußballspielen hinaus auf die Dörfer. Unser Nachbar Matthias Fisch, der ein Obst- und Gemüsegeschäft betrieb, unterstützte die Jugendarbeit des SV, indem er uns sonntags mit seinem Lieferwagen zu den Auswärtsspielen fuhr. Da wurden ganz einfach ein paar Bänke auf die Ladefläche gestellt. Wenn wir aber gewonnen hatten, wie auf dem beigefügten Foto, im Spiel um die Kreismeisterschaft am 11. März 1951 mit einem satten 5:0 Sieg gegen den SV Jünke-rath, dann blieb niemand von uns auf den Bänken sitzen, wenn wir singend und jubelnd heimfuhren.