Kreativität nach dem Kriege

Hildegard Dümmer, Hillesheim

Betritt man in der heutigen Zeit einen Spielzeugladen, so wird man fast erschlagen von Fülle und der Vielfalt an Spielwaren, die dort präsentiert werden. Das Angebot erstreckt sich vom einfachen Bauklötzchen bis hin zum komplizierten Computerspiel; vom simplen Handwägelchen bis hin zum technisch hochversierten Roboterspielzeug und noch mehr. Die Auswahl ist riesig: die Wahl fällt schwer.
Ganz anders war es da in der Nachkriegszeit. Die Läden waren fast leer, die finanziellen Mittel gering. Das wenige vorhandene Geld wurde für den Wiederaufbau und andere lebensnotwendige Dinge gebraucht. Die Kinder mussten neben dem täglichen Schulunterricht, der sich an manchen Tagen bis zum späten Nachmittag ausdehnte, noch sehr viel in der Landwirtschaft und im Haushalt helfen. Kinderarbeit war an der Tagesordnung und oft auch unentbehrlich.
Trotzdem wurde in der knapp bemessenen Freizeit häufig gespielt. Da die Dorfkinder sehr kommunikativ waren, spielten sie meist in Gruppen. Im Sommer waren Spiele im Freien, wie Bewegungs-, Lauf- und Ballspiele vorrangig. Neben dem unvermeidlichen „Fangen“ und „Verstecken“ war das Völkerballspiel auf Straßen, Höfen und Plätzen eines der beliebtesten. In Ermangelung von Gummibällen dienten Stoffbälle, von geschickten Müttern, Großmüttern oder Tanten aus alten Lumpen angefertigt, als Ersatz. Da diese oftmals etwas unrund waren, trafen sie nur selten das vorgegebene Ziel. Außerdem flogen sie nicht sehr weit, ließen sich dafür umso besser schnappen. Weitere Lauf- und Gemeinschaftsspiele waren: „Dritten abschlagen“, „Gefahr“ „Der Kaiser schickt seine Soldaten aus“ und Ähnliches mehr. Diese Spiele sind heute gänzlich unbekannt, beinhalteten doch wohl damals noch Ängste und Nachwehen der vergangenen Kriege. Ganz besonders liebten wir es, als „Räuber und Schanditzen“ (Gendarmen) durchs Dorf zu streifen. Heiß begehrt war dabei stets die Rolle der Räuber, da diese - wie auch im wirklichen Leben- den Schanditzen stets um eine Nasenlänge voraus sein durften. Dieses Spiel erstreckte sich über das ganze Dorf bis hin zum nahe gelegenen Wald. Da gab es keinen Schuppen, keine Scheune, keinen noch so geheimen Winkel, der uns Kindern verborgen blieb. Ja nicht einmal das damals noch übliche „Plumpsklo“ wurde als Versteck ausgelassen. Das war ein Jagen und Verfolgen, spannend wie ein moderner Krimi. Ein solches Spiel konnte auch schon mal einen ganzen Nachmittag andauern, bis auch der letzte Räuber gefasst war. Am nächsten Tag wurden dann die Rollen getauscht. Andere Bewegungsspiele, wie „Seilspringen“, „Hüpfekästchen“, „Gummitwist“ u. a. waren auf Schulhöfen während der Pausen sehr beliebt. Auch das Klickern mit Ton- oder Glaskugeln war fast überall möglich, denn Straßen und Höfe waren meist nur abgesandet, so dass man mühelos die erforderlichen „Kaulen“ ausbuddeln konnte. Künstlich angelegte Spielplätze und gepflegte Rasenflächen gab es keine, aber viele andere Möglichkeiten, sich auszutoben. Da man sich in den Sommermonaten großenteils im Freien aufhielt, waren Höfe, Plätze, Straße, Wald und Wiese die gegebenen Spielplätze. In Ermangelung von Spielgeräten war Kreativität angesagt. Alles wurde selbst gebastelt. Vorrangig waren Spielgeräte aus Holz, wie: Wippen, Schlitten, Klappern, Puppenküchen, Puppenwagen oder Puppen, Bären und Ähnliches aus Stoff, Wolle und Lumpen. Auch die Kinder waren sehr ideenreich und hatten tolle Einfälle, die sofort in die Tat umgesetzt wurden. Einiges glückte, manches misslang. So kamen wir Mädchen auf die Idee, selbst Parfüm herzustellen. Zu diesem Zweck sammelten wir Blütenblätter von duftenden Wildrosen, pressten sie in ausgediente Konservendosen, kochten sie mit wenig Wasser auf, siebten das Ganze ab und füllten es in Fläschchen. Doch der ersehnte Duft blieb aus. Unermüdlich starteten wir weitere Versuche mit Zusätzen von Essig, Zucker und sogar Honig.
Aber ein Erfolg stellte sich auch
jetzt nicht ein. Ebenso erging es uns mit dem Bau eines Spielhäuschens im nahe gelegenen Wald. Unermüdlich setzten wir Tag für Tag Mauern aus Lavasteinen und Matsch auf, um sie am nächsten Tag zusammengestürzt wiederzufinden. Schließlich gaben wir auf. Da machten die von einem Nachbarn im Wald angebrachten Schaukeln doch weit mehr Spaß. Er hatte einfach ein Ochsenjoch mit den dazugehörigen Gespannsketten zwischen zwei Buchen befestigt und so ein herrliches Spielgerät geschaffen. Welche Wonne war es, weit über den Waldweg zu schwingen! Und niemand meckerte.
Die Winterabende wurden meist in den Stuben mit Karlen- und Brettspielen verbracht. Als Brettspiele waren Halma, Mühle und Dame sowie das unvermeidliche „Mensch ärgere Dich Nicht“ angesagt. Nicht selten kamen auch Karten auf den Tisch. Man spielte Quartett, Schwarzer Peter, Mau-Mau , Skat oder „Sieweschröm“. Ganz Kühne spielten auch schon mal ”Siebzehn und vier“, was eigentlich ein Glücksspiel und deshalb verboten war. Aber in Ermangelung von Geld wurden Gewinn und Verluste in Form von Knöpfen aus Mutters Nähkästchen erstattet. So hatten die Kinder im Dorf, trotz der vielen und oft auch zu schweren Arbeiten in Haus, Hof, Feld, Garten und Stall, doch viele Freiheiten, die unsere Kinder heute leider nicht mehr haben.